Debatte um Mobilität

Streit um Auto und Rad im Verkehr in BW: Wem gehört die Stadt in Zukunft?

Stand

Von Autor/in Natalie Meyer

Tübingen baut sogar eine beheizbare Radbrücke, Stuttgarts Radwegenetz sorgt eher für Frust. Wie können alle Verkehrsteilnehmer in der Stadt in Zukunft zufrieden sein?

Die Debatte um die Mobilität in der Stadt in Zukunft läuft auch in Baden-Württemberg. Dabei prallen immer wieder unterschiedliche Bedürfnisse zusammen.

Andreas Kramer fährt mit dem Lastenrad über die neue Attraktion seiner Stadt: Die kurvige, riesige Fahrradbrücke von Tübingen. Bundesweit berühmt, denn sie ist die teuerste ihrer Art in Deutschland mit 16 Millionen Euro. Dafür ist sie im Winter beheizbar. "Ich bin nicht stolz auf die Brücke. Viele sehen die Brücke halt nicht als unbedingt notwendig“, sagt Kramer. In seinem Lastenrad hat er Bettwäsche, die er gerade zu Kunden fährt. Er hat vor 10 Jahren das traditionsreiche Matratzengeschäft Hottmann in der Tübinger Altstadt übernommen. Dort kann aber kaum noch Kundschaft parken. Deshalb kommt er zu ihnen - und das geht mit dem Rad deutlich schneller. "Es gibt Strecken, für die brauche ich zu Fuß oder mit dem Rad 5 bis 10 Minuten und mit dem Auto gerne mal 30 bis 40 Minuten bei viel Verkehr."

Lastenrad mit Mann wird über Tübinger Marktplatz geschoben
Mit dem Lastenrad Bettwäsche ausliefern - für Matratzenhändler Kramer aus Tübingen eine Form des Kundenservice.

Tübingen: große Ziele, praktische Herausforderungen

Tübingen verfolgt eine ambitionierte Verkehrswende mit dem Ziel, den Autoverkehr zu reduzieren sowie den Rad- und Fußverkehr zu fördern. Fahrradstraßen, ein Kreisverkehr, mehrere beheizbare Brücken - es ist ein Paradies für Radfahrer. Das hat aber Nachteile für andere Verkehrsteilnehmer.

Trotz einem knappen Haushalt wird das dann gebaut - und dann gibt’s dafür weniger Busse, weniger Parkplätze für Autos. Da bilden sich dann einfach zwei Lager, weil das nicht jeder nachvollziehen kann.

Sein größtes Problem: fehlende Parkplätze. Denn nach wie vor muss er sich durch die enge Altstadt quetschen, um Matratzen auszuliefern. Die passen in kein Lastenrad. Man habe einfach zu schnell zu viel verändert - ohne alle Bedürfnisse mitzudenken. "Hier hat eigentlich auch jeder ein Interesse. Der eine liefert die Milch für Cafés oder es ist der Handwerker. Aber freiwillig fährt hier keiner durch. Außer er hat es nicht kapiert, dass er irgendwann in der Altstadt landet."

Tübingen

Trotz Pannen bei Vorgänger-Projekten Noch eine beheizbare Brücke für Radfahrer in Tübingen

Tübingen baut eine weitere beheizbare Fahrradbrücke. Im Ortsteil Lustnau soll es eisfrei über den Neckar gehen. Die alte Brücke an dieser Stelle fanden viele Radler umständlich.

Tübinger fahren wegen Parkplätzen nach Metzingen

Für seine Mitarbeiter mietet er Parkplätze an, braucht für die Auslieferungen Sondergenehmigungen. Zudem sind die Matratzen auf drei Lager in der Stadt verteilt. All das kostet ihn rund 20.000 Euro im Jahr. "Und dann kommen manchmal Tübinger Kunden zu meiner zweiten Filiale nach Metzingen, um Matratzen zu kaufen. Weil sie da eben direkt vor der Tür parken können.“

Freiwillig fährt keiner durch die Tübinger Altstadt.

Kramer ist nicht allein mit dem Problem. Mehrere Einzelhändler bestätigen, dass Kunden in der Innenstadt eher kleine Gegenstände kaufen, nichts Großes mehr. So verkauft ein Bäcker etwa nur noch Bretzel, weniger lukratives Brot. Ein Juweliergeschäft musste kürzlich nach mehreren Jahrzehnten schließen und benennt ebenfalls die fehlenden Parkmöglichkeiten als einen der Gründe

Autostadt Stuttgart als "Todeszone" für Radfahrer?

Rund 50 Kilometer weiter in der Landeshauptstadt dominiert noch immer das Auto. Das Verkehrsministerium hatte vor wenigen Wochen erst eine landesweite Radweg-Offensive verkündet und will den Autoverkehr in Städten um ein Fünftel reduzieren. Hier in Stuttgart ist davon wenig zu spüren. Radwege enden oft in Baustellen, an Ampeln, mitten auf Hauptstraßen. Geh- und Fahrradwege sind zum Teil so kurz, dass es zu Unfällen kommt, wie der passionierte Radfahrer Gerhard Wollnitz berichtet.

"Es gibt diese Dooringzones. Wenn der Fahrradweg nur einen Meter breit ist und da macht einer ohne zu schauen die Tür auf, wird's gefährlich. Ich hab's schon miterlebt: Ich hab eine Frau mit Rad am Boden liegen sehen, der Notarzt war da, sie war aschfahl, der Autofahrer war blass."

Die Stadt Stuttgart führt die Fahrradfahrer in die Todeszone.

Zahl der Radtoten schwankt

Gefahren für Radfahrer sieht der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) nicht nur in Stuttgart. In den vergangenen zehn Jahren schwankt die Zahl der getöteten Radfahrer laut ADFC zwischen 42 und 75, im vergangenen Jahr waren es 57 Tote. Es sei dem Land nicht gelungen, die Zahl der schwerverletzten und getöteten Radfahrer zu reduzieren. Die Landesregierung müsse ihren Fokus auf den Radverkehr legen und ihn sicherer machen, fordert der Club.

Gerhard Wollnitz im Stuttgarter Verkehr
Gerhard Wollnitz im Stuttgarter Verkehr

Fahrradfan und Architekt Gerhard Wollnitz hat vor rund neun Jahren seinen eigenen Weg gefunden, um Platz in der Stadt vom Auto zurückzuerobern. Mit einem Auto aus Holz, seinem sogenannten Parkraumwunder. Heute steht das "Parkraumwunder" im Stuttgarter Westen. Es ist in die Jahre gekommen. Das weiß gestrichene Holz blättert an einigen Stellen ab. Dicht daran hat ein Auto geparkt. "Es wird noch immer gern genutzt, wird angenommen", sagt Wollnitz. Er glaubt nicht an die Zukunft des Autos in Stuttgart. "Das wird auf lange Sicht nicht anders gehen. 50 Prozent der Stuttgarter Innenstadtbewohner leben bereits ohne Auto, die anderen 50 Prozent könne das auch noch lernen."

BW-Verkehrsminister Hermann: Bäume statt Parkplätze

Auch BW-Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) spricht sich für weniger Autos in Innenstädten aus. In der SWR-Sendung "Zur Sache! Baden-Württemberg" am Donnerstag sagte er: "Viele Parkplätze stehen da, wo ein Baum sein könnte. Viele Straßen sind so breit, dass auch eine Grünzone nebendran sein könnte." Mit dem neuen Mobilitätsgesetz können Kommunen Autofahrer aber künftig zur Kasse bitten, um den Nahverkehr weiter auszubauen. Während in Städten wie Stuttgart und Tübingen sich die Verkehrswende noch schwer tut, gibt es im europäischen Ausland konkrete Ansätze, den Autoverkehr einzudämmen.

Das bestätigt auch Verkehrsminister Hermann: "Man kann schon sagen, dass in den letzten Jahrzehnten Autos immer dominanter geworden sind, den meisten Raum eingenommen haben. Tausende Autos werden selbstverständlich und oft kostenlos abgestellt.

Das ist ein weltweiter Trend, Fußgängern und Radfahrern mehr Plätze zu geben.

Der Bundestagsabgeordnete Thomas Bareiß (CDU) aus dem Wahlkreis Zollernalb-Sigmaringen widerspricht. Er war bei den Koalitionsverhandlungen im Ausschuss Verkehr dabei. ​"Es gibt die, die älter sind, schwere Dinge tragen, Kinder wegbringen müssen. Das sind Dinge, wo die Leute das Auto brauchen, auch in der Innenstadt. Deshalb sollten wir die Autos nicht verteufeln oder teurer machen. Sondern wir brauchen auch Konzepte, wie Autos in der Innenstadt weiterhin möglich sind."

Kompromiss für alle

Ob "Fahrrad zuerst" oder "Auto zuerst" - weder in Stuttgart noch in Tübingen scheint das für alle Verkehrsteilnehmenden eine ideale Lösung zu sein. Matratzenhändler Kramer aus Tübingen wünscht sich einen Kompromiss für alle. "Man kann einer Stadt weder Fahrrad noch Auto überstülpen. Beides macht sie nicht lebendiger. Es wäre schön, wenn Politik und Stadtplaner da künftig eine Lösung für alle finden."

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