Ausschreitungen in Ägypten Radikalisierung als Strategie des Militärs?
Durch das harte Durchgreifen des Militärs wird die Muslimbruderschaft radikaler werden. Das könnte wiederum verstärkte Polizeigewalt nach sich ziehen, erwartet Ägypten-Experte Roll im tagesschau.de-Interview. Doch diese Gewaltspirale könnte Teil einer Strategie des Militärs sein.
tagesschau.de: Herrschen in Ägypten angesichts der Ausschreitungen bereits bürgerkriegsähnliche Zustände?
Stephan Roll: Wir haben auf jeden Fall eine Eskalation der Lage und eine Radikalisierung - und das ist ziemlich schlimm. Bürgerkrieg ist insofern vielleicht der falsche Begriff, weil die Sicherheitskräfte und die Armee ein intakter Apparat sind und die Situation trotz der vielen Toten unter Kontrolle haben. Es ist unklar, wer gegen die wirklich kämpfen soll. Also, ich sehe Radikalisierungstendenzen und auf lokaler Ebene vielleicht auch Dörfer und Städte, die letztlich von Islamisten übernommen werden. Ähnliche Situationen hatten wir schon mal in den 1990er-Jahren, aber ich sehe nicht, dass es jetzt in absehbarer Zeit eine Entwicklung wie in Syrien gibt.
Stephan Roll ist Mitarbeiter der Forschungsgruppe "Naher/ Mittlerer Osten und Afrika" der Stiftung Wissenschaft und Politik. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf Ägypten.
tagesschau.de: Fällt Ägypten damit zurück in den gleichen Zustand wie während des Mubarak-Regimes?
Roll: Die Politik, die momentan von der Übergangsregierung und den Sicherheitskräften gefahren wird, deutet ganz klar darauf hin, dass Ägypten in diese Zeit zurückfällt. Dass man eben versucht, über Repression die Situation zu beruhigen. Der Unterschied zur Mubarak-Ära ist aber – und das ist durchaus eine bedenkliche Entwicklung - dass weite Teile der Bevölkerung das gut finden.
Armee hat Rückhalt in der Bevölkerung
tagesschau.de: Hinter welcher Gruppe steht die Bevölkerung denn momentan?
Roll: Es ist schwer zu beantworten, wie viele Anhänger die Muslimbrüder jetzt wirklich haben und wie viele Anhänger das Militär. Denn es gibt keine seriösen Meinungsumfragen. Aber meiner Meinung nach heißt doch der größte Teil der Bevölkerung klar ein robustes Vorgehen gut und sehnt sich den starken Mann herbei. Und auch im öffentlichen Diskurs haben wir in Ägypten in manchen Teilen auch schon fast faschistoide Züge. Dort wird eine Sprache verwendet, die mit Demokratie, Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit nichts mehr zu tun hat.
tagesschau.de: Wo ist die Demokratiebewegung vom Tahir-Platz hin?
Roll: Ich glaube, es war ein Fehler, dass wir diese Demokratiebewegung oder diese jugendlichen Aktivisten als einheitlichen Akteur gesehen haben, also zugespitzt als die Guten, die die Demokratie haben wollen. Und wir waren vielleicht zu unkritisch, dass sich diese Gruppe aus vielen kleinen Gruppen und Partikularinteressen zusammensetzt: aus Jugendlichen, die vielleicht auch andere Vorstellungen von Demokratie haben als wir.
"Zukunft Ägyptens hängt von den Golfländern ab"
tagesschau.de: Wie lange kann das Militär ein derart hartes Vorgehen durchhalten?
Roll: Ich glaube schon, dass das Militär das noch eine Weile durchhalten kann. Doch es wird davon abhängen, inwieweit die Übergangsregierung genug finanzielle Ressourcen hat, um die wirtschaftliche Situation zumindest auf einem bestimmten Level zu halten. Wenn es wirtschaftlich noch schwieriger wird, dann werden viele Ägypter auch die neue Administration früher oder später in die Verantwortung nehmen - und dann wird es schwer, das harte Vorgehen durchzuhalten.
Ein ganz wichtiges Kriterium, um zu beurteilen, wie beständig das neue System sein kann, ist aus meiner Sicht die Frage, inwieweit die Golfländer bereit sind, Geld bereitzustellen. Die jetzige wirtschaftliche Situation in Ägypten ist katastrophal und das Land wird jetzt durch die akuten Kredite aus den Golfländern - insgesamt bis zu zwölf Milliarden US-Dollar - über Wasser gehalten. Wenn jetzt die Golfländer für sich die strategische Entscheidung getroffen haben, das über Jahre hinweg zu machen - zum Beispiel weil man im eigenen Land Angst vor der Opposition hat oder eben lieber das Militär oder Führung "Mubarak light" in Ägypten hat als die Islamisten - dann kann das eine Situation werden, die durchaus eine ganze Weile aufrecht zu halten ist. Aber ohne dieses Geld wird es schwierig, weil Ägypten keine Touristen bekommen wird, keine ausländischen Investitionen, keine Hilfen aus dem westlichen Ausland.
tagesschau.de: Könnte der wirtschaftliche Druck am Ende dazu führen, dass sich Muslimbrüder und Armee aufeinander zubewegen?
Roll: Die Muslimbruderführung wird sich unter den jetzigen Umständen sicher überhaupt nicht bewegen. Sie wird den eigenen Anhängern nicht rechtfertigen können, größere Schritte auf die neue Administration zuzugehen. Dazu ist die Opferzahl zu hoch, dazu ist zu viel Porzellan zerbrochen. Letztlich müsste also ein wirklich großer erster Schritt von der Übergangsregierung und vom Militär erfolgen. Aber nach diesem massiven und überzogenen Militär-Polizeieinsatz gehe ich nicht davon aus, dass es noch einen Willen der Übergangsregierung gibt, Schritte in diese Richtung zu machen. Die haben offensichtlich eine andere Strategie im Kopf.
Radikalisierung als Teil der Strategie?
tagesschau.de: Welche Strategie könnte hinter dem Vorgehen des Militärs stecken?
Roll: Das ist schwer abzuschätzen. Entweder sie haben einfach keine Strategie und treffen Ad-hoc-Entscheidungen. Das heißt, sie sagen, wir müssen da jetzt Ordnung schaffen und gehen jetzt nach den Mustern, die wir aus dem Mubarak-Regime kennen, vor - also mit brachialer Gewalt.
Oder sie haben eine sehr perfide Strategie im Kopf: Die würde darauf abzielen, die Muslimbrüder und andere islamistische Gruppen mit Absicht zu radikalisieren. So könnte man dann auch gegebenenfallls durch das Ausland legitimiert gegen solche Gruppen vorgehen, noch mehr Sicherheit auffahren und das Land in einen Polizeistaat umbauen. Das wäre eine sehr perfide Strategie, ich würde sie aber nicht ausschließen.
tagesschau.de: Warum sind die Kopten in diesen Tagen offenbar Zielscheibe von verstärkten Angriffen?
Roll: Spannung und Übergriffe auf koptische Christen sind in Ägypten kein völlig neues Phänomen, die gab es auch schon unter Mubarak. Im Moment gibt es die natürlich auch, weil wir Zonen haben, die nicht mehr durch Staatsgewalt kontrolliert sind. Und ganz konkret ist jetzt bei vielen Pro-Mursi-Anhängern die Wut sehr groß darüber, dass sich die Führung der koptischen Kirche ganz klar auf die Seite des Militärs und der Übergangsregierung gestellt hat. Darin sehen jetzt Einige, dass die koptische Kirche - aus ihrer Sicht - Teil dieser Verschwörung ist. Und das erklärt sicher auch die Übergriffe. Ich wäre aber vorsichtig zu sagen, dass die Muslimbruderschaft das anordnet. Ich denke eher, dass das Vorgehen der Militärs dazu führt, dass die Muslimbruderschaft die eigenen Anhänger gar nicht mehr kontrollieren kann. Da wird es weiter unkontrollierte Entwicklungen und Radikalisierungen geben.
Gewaltspirale wahrscheinlich
tagesschau.de: Ist eine Beruhigung der Krise absehbar?
Roll: Ich sehe momentan kein Ende. Wir werden wohl weiterhin massive Polizeigewalt sehen und auf der anderen Seite eine weitere Radikalisierung, die wiederum Polizeigewalt nach sich zieht. Viel hängt aber tatsächlich davon ab, wie die Übergangsregierung das Ganze finanzieren kann. Denn viele Ägypter, die jetzt die Muslimbrüder für das Desaster verantwortlich machen, könnten dann auch die Übergangsregierung oder das Militär schnell als Problem sehen.
Meine Hoffnung wäre aber, dass es von außen gelingt, das Militär, die Übergangsregierung dazu zu bewegen, dass sie erkennt, dass es eine Lösung nur durch Dialog mit der anderen Seite geben kann. Aber das ist wohl Illusion.
Das Interview führte Caroline Ebner, tagesschau.de.