Klimawandel in Kanada Tuktoyaktuk verschwindet im Meer
Die Arktis erwärmt sich schneller als andere Regionen - mit drastischen Folgen für das Küstendorf Tuktoyaktuk in Kanada. Da der Permafrost taut, trägt der Ozean den Boden unter den Häusern ab. Die Menschen verlieren ihre Heimat.
Eine riesige Eisplatte taut in der Sonne, der Permafrost darüber schmilzt und sackt ab, die Küste erodiert. Es gibt wenige Orte, an denen die Folgen des Klimawandels so drastisch zu sehen sind wie in Tuktoyaktuk. Die Gemeinde könnte die erste in Kanada sein, die komplett umziehen muss.
"Hier stand einmal mein Haus", sagt Noella Cockney. Sie steht an der Klippe und zeigt aufs Meer, wo der arktische Ozean sanft an den Strand plätschert. Nichts erinnert mehr an ihr Zuhause.
Die Wellen haben so lange an dem Boden unter dem Gebäude genagt, bis es zu unsicher wurde, dort zu leben. "Ich konnte nicht mehr ruhig schlafen", erzählt die pensionierte Polizistin. "Vor allem im Sommer hatte ich ständig Sorge, dass das Meer Geröll gegen meine Fenster schleudert und sie zerschlägt."
"Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit"
Noella ist eine der ersten in Tuktoyaktuk, deren Haus komplett umgesiedelt werden musste. Doch das dürfte nur der Anfang sein. "Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit", sagt die Frau mit der sanften Stimme. "Langfristig müssen wohl alle meine Nachbarn ins Inland ziehen. Es ist schwer, das zu begreifen. So viele Menschen werden ihre Heimat verlieren wegen des Klimawandels."
Rote, gelbe und blaue Holzhäuser säumen die Küste von Tuk, wie sie den Ort hier liebevoll nennen. Überall am Strand steigt Rauch aus kleinen Zelten auf - hier räuchern die Inuit ihre Fische.
1.000 Menschen wohnen in dem Ort am Ende vom Dempster Highway. Er ist die einzige Verbindung zum Polarmeer in Kanada und zu dem strategisch wichtigen Hafen, der die westliche Arktis mit Gütern und Lebensmitteln versorgt.
Die pensionierte Polizisten Noella Cockney musste bereits mit ihrem Haus wegziehen.
Die vorgelagerte Insel bricht weg
Dustin Whalen wirft den Außenborder seines Bootes an. Heute spielt der Forschungsleiter den Chauffeur. Er forscht seit fast 20 Jahren hier, jetzt bringt er ein ganzes Team von Wissenschaftlern aus Kanada und Großbritannien rüber nach Tuk-Island. Diese ein Kilometer lange, vorgelagerte Insel ist wie eine Lebensversicherung für den Hafen.
Doch sie schrumpft, weil die Küsten an beiden Seiten erodieren - zwei Meter jedes Jahr. Und bei Temperaturen von bis zu 30 Grad in diesem Sommer geschieht das sogar noch schneller.
Die arktische Region erwärmt sich viermal schneller als der Rest der Welt. "Wir kennen doch alle die Sprüche: Als ich klein war, war alles anders," sagt Dustin. "Aber jetzt sagen die jungen Leute, vergangenen Sommer war alles anders. Da konnte ich noch über eine Sandbank gehen - die ist jetzt komplett weg, weil das Eis darunter aufgetaut ist."
Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Institut bei der Feldarbeit in Tuktoyaktuk. Ihnen bereiten vor allem die unsichtbaren Folgen der Erwärmung Sorgen.
Gase steigen in die Atmosphäre auf
"Seid vorsichtig", warnt der Kanadier, als er vor dem riesigen Feld aus tiefem Match und abgerissenen Stücken Tundra steht. "Am besten, ihr springt von Grasfleck zu Grasfleck."
Hier kann man Küstenerosion hautnah erleben und große Stücke Erde aufs Eis knallen hören. Unten eine braune Suppe aus geschmolzenem Permafrost, oben an der Klippe meterdickes Eis, das ungeschützt in der Sonne schwitzt. "Hier ist der Permafrost aufgetaut - und legt das Eis frei", zeigt der Forscher auf die Eisplatte. "Eine sichtbare Folgen des Klimawandels."
Was Dustin noch mehr sorgt, sind die unsichtbaren Folgen. Sobald der Permafrost taut, werden Bakterien aktiv und zersetzen die Materie. Dabei entstehen Treibhausgase, Methan zum Beispiel.
"Das ist wie bei einer Kühltruhe, bei der man den Stecker zieht", erklärt der Permafrost-Forscher Paul Overduin vom Alfred Wegener Institut in Potsdam. "Wenn man sie zwei Wochen später aufmacht, stinkt es." Diese Gase gehen in die Atmosphäre und können das Klima weltweit verändern.
Der offene Permafrostboden bei Tuktoyaktuk. Oben ist Erde und Tundra, darunter Erde gemischt mit gefrorenem Wasser und darunter eine dicke Eisschicht. Wenn das Eis taut, dann schmilzt diese Schicht nach und nach weg, und alles was darüber liegt, sackt ab.
Regierung sagte Millionen für Küstenschutz zu
Noella Cockney hatte Glück: Ihr rotes Holzhaus konnte komplett umgesiedelt werden. Über eine Eisstraße wurde es im Winter an einen sicheren Ort landeinwärts transportiert. Doch was ist mit den vielen anderen, die direkt am Wasser in Tuk leben?
Die Regierung hat zwar gerade mehr als 53 Millionen kanadische Dollar für den Küstenschutz zugesagt. "Doch das wird uns nur über die kommenden 30 Jahre retten", sagt die Inuit-Frau.
Die Küste von Tuktoyaktuk. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Ort in den nächsten Jahren komplett umziehen muss.
Ihre Sorge: Wenn vorher ein schwerer Sturm kommt, mit Überflutungen und Zerstörung, dann könnte der Ort nicht mehr so einfach umgesiedelt werden wie ihr Haus.
Sie vermisst zwar den beruhigenden Klang der sanft plätschernden Wellen. Aber seitdem sie hier wohnt, kann Noella endlich wieder ruhig schlafen.
Diese und weitere Reportagen sehen Sie im Weltspiegel - am Sonntag, den 27.8.2023, um 18.30 Uhr im Ersten.