Proteste in Armenien Eine Revolution ohne Gewalt
In Armenien steht ein Machtwechsel bevor. Im zweiten Anlauf wurde Protestführer Paschinjan zum neuen Regierungschef gewählt. Es ist ein Erfolg für eine durchaus ungewöhnliche Protestbewegung.
Am liebsten reiht sich Olja Asatjan vorne im Protestzug ein, noch vor Oppositionsführer Nikol Paschinjan, der einmal mehr zum Marsch gegen die Regierungspartei der Republikaner aufgerufen hat. Auch diesmal folgen ihm Tausende auf einer acht Kilometer langen Strecke durch die armenische Hauptstadt Eriwan. Asatjan weiß kaum noch, wie viele Kilometer sie während des Aufstandes zurückgelegt hat.
Von der Dynamik überrollt
Von der Protestwelle hinweggefegt wurde bereits Sersch Sargsjan, der sein Versprechen gebrochen und nach zehn Jahren als Präsident doch auf den Ministerpräsidentenposten gewechselt war. Er trat zurück.
Doch die Menschen wollten mehr, erklärt Aktivistin Asatjan. Auch Sargsjans Republikanerpartei solle die Macht abgeben und den Weg für freie und faire Wahlen ebnen. Der erste Schritt dorthin war die Wahl heute im Parlament zum Ministerpräsidenten, bei der Oppositionsführer Paschinjan einziger Kandidat war.
Die Republikaner sind in der Defensive. Ihre Versuche, Paschinjan zu diskreditieren und vor Chaos und Gewalt zu warnen, ließen sie nur noch unglaubwürdiger erscheinen. Paschinjan gilt als einer der wenigen nicht korrumpierten Politiker in Armenien. Er fordert immer wieder zu Gewaltlosigkeit auf.
Nachdem die Republikaner in einer ersten Abstimmung seine Wahl zum Regierungschef verhindert hatten, rief Paschinjan zum Generalstreik auf - und das ganze Land erstarrte. Doch am nächsten Tag sollten die Leute wieder zur Arbeit gehen. Auch dies geschah: Als hätten sie nicht am Vortag noch bis spät am Abend auf den Straßen getanzt, kehrten die Menschen zur Normalität zurück, als sei nichts geschehen.
Paschinjan und seine Mitstreiter demonstrieren so, dass das Land nicht in Unruhe und Gewalt gestürzt wird. Vorbild der "samtenen Revolution Armeniens" ist der friedliche Aufstand in der Tschechoslowakei 1989.
Nicht werden soll es wie in der Ukraine 2014 oder Kirgistan 2005 und 2008 in Armenien selbst, als Sicherheitskräfte die Proteste niederschlugen. Und anders als in Georgien 2003 gibt es in Armenien keine konkrete Unterstützung aus dem Ausland. Das stützt die Glaubwürdigkeit der Protestbewegung.
Erfahrungen im "zivilen Ungehorsam"
Die organisiert seit mehr als zehn Jahren in einem losen Netzwerk Protestaktionen. Zu diesem Netzwerk zählt Asatjan, aber auch Lena Nasarjan, die inzwischen Parlamentsabgeordnete ist.
Sie engagierten sich seit 2004 gegen die Errichtung eines Kupferbergwerks, gegen den Bau eines Shoppingcenters in einem Park, gegen die Erhöhung von Bus- und Strompreisen oder auch gegen einen Oligarchen, dessen Bodyguard im Streit einen Armeearzt getötet hatte.
Wie sie gelernt haben, viele Menschen für ihre Aktionen zu motivieren, erklärt Asatjan so: konkrete Nöte der Menschen thematisieren und eingängige Slogans finden, mit denen sich viele identifizieren können. Zum Beispiel: "Das ist unser Land!". Sie lernten, mit Provokationen von Schlägertrupps der Oligarchen umzugehen. Sie brachten den Menschen "zivilen Ungehorsam" bei - Aktionen, die nicht gegen das Gesetz verstoßen: Zum Beispiel in Gruppen auf Zebrastreifen auf und ab gehen und damit Straßen blockieren.
Vor wenigen Tagen setzten Eltern an einer Schule durch, dass die Direktorin zurücktreten musste. Sie hatte bei Wahlen die Lehrer bestochen, für die Republikaner zu stimmen und sperrte die Schule zu, damit die Kinder nicht zu den Protestaktionen gehen konnten. Andere Gruppen organisierten Blockadeaktionen gegen Supermarktketten von Oligarchen, die den Lebensmittelmarkt beherrschen.
Paschinjan unter Beobachtung
Doch das alles beherrschende Oligarchensystem lasse sich nur innerhalb der Politik bekämpfen, sei den Aktivisten vor fünf, sechs Jahren klargeworden, erzählt Asatjan. Sie entschied sich trotzdem, der Politik fernzubleiben. Ihre Mitstreiterin Nasarjan schloss sich Paschinjans Partei an, wurde Abgeordnete und koordiniert nun die Protestaktionen.
Paschinjan ist der charismatische und angesehene Politiker, den die Protestbewegung noch brauchte, um eine Führung zu finden und mehr Menschen anzusprechen. Doch Asatjan und andere Aktivisten sehen seine Stärke mit Skepsis. Sie wollen zwar, dass er Verantwortung als Regierungschef übernimmt und auch schmerzhafte Kompromisse eingeht, damit sich endlich etwas bewegt im Land. "Doch werden wir mit ihm genauso umgehen wie mit den Republikanern", sagt zum Beispiel die Feministin Lara Aharonian.
Situation anders als in Russland
Dass Paschinjan als unbescholten gilt, aber kritisch begleitet wird, dass die Protestbewegung nicht von oben, sondern eigenständig aus der Zivilgesellschaft heraus und eng mit der Bevölkerung verbunden agiert, seien Faktoren für ihren Erfolg, sagt Asatjan. Dass die Aktionen friedlich organisiert werden, nehme den Menschen die Angst vor Gewalt und Unsicherheit im Land.
Hinzu kommt, dass es der Republikaner-Partei um Sargsjan nicht gelang, so umfassend in der Gesellschaft durchzugreifen, wie dies in Russland oder im Iran der Fall ist. Außerdem: Die Oligarchen reizen ihre Monopole gegen die eigenen Landsleute so weit aus, dass es so einfach nicht weitergehen kann in Armenien - so der vieltausendfache Ruf der Demonstranten im ganzen Land.