Gespräche nach Waffenruhe Aserbaidschan will Kontrolle über Bergkarabach
Nach dem Sieg Aserbaidschans im Bergkarabach-Konflikt sollte es bei Gesprächen um die "Wiedereingliederung" der Region gehen. Doch viele Streitpunkte mit den Armeniern blieben ungeklärt. Zudem soll Aserbaidschan die Waffenruhe verletzt haben.
Bei den Gesprächen über die Zukunft der Krisenregion Bergkarabach haben die Konfliktparteien noch keine endgültige Vereinbarung erzielen können. "Wir müssen noch viele Fragen und Probleme durchsprechen", sagte David Babajan, ein Berater der selbsternannten Regierung von Bergkarabach. So habe seine Seite zwar einer Feuerpause mit Aserbaidschan zugestimmt.
Ungeklärt sei aber die Umsetzung der damit verbundenen Forderung Aserbaidschans, wonach die in Bergkarabach lebenden ethnischen Armenier auch ihre Waffen abgeben sollen. Erst seien Sicherheitsgarantien nötig, forderte Babajan. "Sie könnten uns jederzeit zerstören, einen Völkermord an uns verüben. Was sollen wir tun?"
Auch die russische Nachrichtenagentur RIA meldete unter Berufung auf einen Unterhändler der ethnischen Armenier, dass es noch keine endgültige Einigung gegeben habe. Ein Vertreter Aserbaidschans wurde zugleich mit den Worten zitiert, es sei kaum zu erwarten gewesen, dass alle Probleme innerhalb eines Treffens gelöst werden könnten.
Appelle von Paschinjan und Putin
Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan warb indes für eine Befriedung des Konfliktes mit dem Rivalen Aserbaidschan. "Frieden ist eine Umgebung ohne zwischenstaatliche und interethnische Konflikte", sagte Paschinjan in einer Rede an die Nation anlässlich des armenischen Unabhängigkeitstages. "Dieser Weg ist nicht einfach, aber wir müssen ihn gehen." Man müsse den Frieden schätzen und dürfe "Frieden nicht mit Waffenruhe und Waffenstillstand verwechseln", sagte Paschinjan weiter.
Auch Russlands Präsident Putin fordert nach Angaben des Kreml den aserbaidschanischen Staatschef Ilham Alijew in einem Telefonat auf, die Rechte der Armenier in Bergkarabach zu respektieren. Alijew entschuldigte sich den Kreml-Angaben zufolge für den Tod von russischen Friedenstruppen am Vortag während der Kämpfe. Russland hat 2.000 Soldaten in Bergkarabach stationiert, die einen 2020 vermittelten Waffenstillstand überwachen sollten.
Hunderte Tote bei Kämpfen
Beide Seiten hatten sich in der aserbaidschanischen Stadt Jewlach getroffen. Bei den Gesprächen sollte es um die Zukunft der rund 120.000 ethnischen Armenier in Bergkarabach gehen. Aserbaidschan hatte am Dienstag einen breit angelegten Militäreinsatz in der Region gestartet. Einen Tag später stimmten die in Bergkarabach lebenden Armenier nach einer militärischen Niederlage einer Feuerpause zu. Bei dem Einsatz sollen Hunderte Menschen getötet und verletzt worden sein, darunter auch Zivilisten und Kinder. Die Angaben ließen sich unabhängig zunächst nicht bestätigen.
Die armenische Seite warf der Regierung Aserbaidschans heute vor, sich nicht an die vereinbarte Waffenruhe zu halten. Im Zentrum der Regionalhauptstadt Stepanakert seien Schüsse zu hören, erklärten Vertreter. Insider hatten zuvor Ähnliches berichtet. Das aserbaidschanische Verteidigungsministerium wies die Anschuldigungen umgehend zurück.
Menschen fliehen aus Bergkarabach
In weiten Teilen von Bergkarabach laufen derweil Evakuierungsmaßnahmen. Von russischer Seite hieß es, bislang seien 5.000 Zivilisten aus besonders gefährlichen Orten in Sicherheit gebracht worden. Offenbar befürchten viele Armenier in der Region, aus ihrer Heimat vertrieben zu werden oder - wenn sie bleiben - zum Ziel aserbaidschanischer Gewalt zu werden.
Zuvor hatte auch der Menschenrechtsbeauftragte der international nicht anerkannten Republik Bergkarabach (Arzach), Gegam Stepanjan, von der Evakuierung mehrerer Ortschaften gesprochen.
EU schickt humanitäre Hilfe
Um den vertriebenen Menschen in der Region zu helfen, will die EU 500.000 Euro für humanitäre Hilfe zur Verfügung stellen. Die Unterstützung erfolge zusätzlich zu den 1,17 Millionen Euro, die seit Jahresbeginn bereitgestellt worden seien, teilte die Europäische Kommission mit. Neben Bargeld zur Deckung der Grundbedürfnisse sollen den Betroffenen Unterkünfte und psychosoziale Unterstützung angeboten werden.
Der für humanitäre Hilfe zuständige Kommissar Janez Lenarcic forderte alle Konfliktparteien auf, Hilfsorganisationen ungehinderten und sofortigen Zugang zu gewähren. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell verurteilte den Angriff Aserbaidschans und verlangte ungehinderten humanitären Zugang. Schon am Mittwochabend hatte EU-Ratspräsident Charles Michel mit Alijew telefoniert und den Gewalteinsatz kritisiert, wie es aus dem Rat hieß. Die Regierung in Baku müsse "glaubhafte Garantien" für die Rechte und die Sicherheit der armenischen Bevölkerung vorlegen sowie eine Amnestie ausrufen, so dessen Forderung.
Jahrzehntelanger Konflikt
Russland gilt traditionell als Schutzmacht des christlich-orthodoxen Armeniens, während das muslimisch geprägte Aserbaidschan auf die Unterstützung der Türkei baut. Russland hatte eigentlich zugesichert, einen nach dem letzten Karabach-Krieg im Jahr 2020 vereinbarten Waffenstillstand in der Region zu überwachen. Viele Armenier werfen Moskau nun vor, sie im Stich gelassen zu haben und seiner Rolle als Schutzmacht nicht nachgekommen zu sein.
Bergkarabach gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, in dem Gebiet leben aber überwiegend Armenier. 1991 hatte sich Bergkarabach nach einem international nicht anerkannten und von der aserbaidschanischen Minderheit boykottierten Referendum für unabhängig erklärt.