Türkei nach dem Erdbeben Syrer als Sündenböcke
Etwa zwei Millionen Syrer wohnen in den vom Erdbeben besonders stark betroffenen Gebieten der Türkei. Doch viele bekommen keine Hilfe - und werden zu Sündenböcken für das Leid der Menschen gemacht.
"Es ist sehr kalt hier", sagt Abdullah und zeigt auf eine Moschee, in der er mit seiner Familie untergebracht wurde. Hierhin, in die Stadt Mersin, sei er gekommen, weil ihm gesagt worden sei, dass er in einer Halle unterkommen könne, erzählt der 80-Jährige.
Stattdessen sei die Familie aber im zugigen Keller der Moschee untergebracht worden. Nun sucht der Syrer mit seiner Familie nach einer anderen Unterkunft: "Wir würden überall hingehen, wo wir eine Bleibe bekommen und uns erholen können."
"Ich finde hier keine Hilfe"
Abdullah ist 2014 mit seiner Familie aus Aleppo geflohen und hat im türkischen Antakya Schutz gefunden - bis das Erdbeben sein neues Zuhause zerstört hat. So wie ihm geht es vielen seiner Landsleute. Hier in den vom Erdbeben besonders stark betroffenen Gebieten leben etwa zwei Millionen Syrer. In der Stadt Antakya stammt fast jeder dritte Einwohner aus dem Nachbarland.
"Ich finde hier keine Hilfe", erzählt auch Bassel, der aus der stark zerstörten Stadt Kirikhan geflohen ist. Er hatte ein kleines Geschäft und ist sogar türkischer Staatsbürger. Man hört ihm seinen arabischen Akzent an, wenn er Türkisch spricht. Eine Bleibe habe er aber erst einmal nicht zugeteilt bekommen.
"Man hat uns versprochen, uns nach Antalya zu bringen und uns eine Unterkunft zu besorgen", erzählt er. Aber daraus sei nichts geworden. Seit Tagen habe er kaum geschlafen und irre durch die Gegend. Er versuche nun, mit seiner Familie irgendwie zurück nach Kirikhan zu kommen. "Dort gibt es zumindest ein Zelt für uns", sagt der 37-Jährige.
Türkische Schutzsuchende haben Vorrang, wenn es um die Unterbringung in Hotels und leeren Ferienwohnungen geht. Bassel sagt, er wisse nicht, ob er mit seiner Frau und Tochter noch staatliche Hilfe bekommen wird. Bis jetzt spreche nichts dafür.
Syrische Nothelfer haben Angst vor Übergriffen
In Mersin versuchen syrische Aktivisten, ihren Landsleuten zu helfen, organisieren Behelfsunterkünfte in Läden und Geschäften. Die Aktivisten achten darauf, möglichst wenig Aufmerksamkeit bei der türkischen Bevölkerung zu erregen und bitten die Schutzsuchenden, sich bedeckt zu halten.
Sie hätten Angst, entdeckt und angegriffen zu werden, sagt einer der Aktivisten, der seinen Namen nicht nennen möchte. Seine Idee war es, alle Schaufenster mit Papier von innen zu bekleben, damit niemand die Schutzsuchenden sehen kann und damit es so aussieht, als ob die Läden renoviert würden.
Er fürchte einerseits Übergriffe auf der Straße und einerseits die Abschiebung nach Syrien. Gemeint sind willkürliche Abschiebungen nach Nordsyrien, wo die Türkei einige Teile des Nachbarlandes mit lokalen Rebellen kontrolliert.
Hetze und Anfeindungen
Die Stimmung in Mersin ist angespannt. Die syrischen Geflüchteten spürten bereits vor dem Erdbeben, wie "unerwünscht" sie im Land geworden seien, erzählen viele. Das habe nach der Katastrophe zugenommen.
Nach dem Erdbeben verbreitete sich in sozialen Medien etwa die Nachricht, die Stadt habe syrische Familien in einem Studentenwohnheim untergebracht. Was auch so war. Doch der türkische Ultranationalist Ümit Özdag meldete sich daraufhin bei Twitter zu Wort: Die Situation sei "inakzeptabel". Wenn die Syrer nicht "rausgebracht" würden, werde er "als Parteichef das Thema in die türkische Öffentlichkeit bringen".
Seine Drohung wirkte sofort. Noch in derselben Nacht wurden die syrischen Familien aus dem Wohnheim geworfen.
Anti-syrischer Populismus aus AKP und Opposition
Ümit Özdağ ist Chef der türkischen ultra-rechten "Zafer-Partei" (Siegespartei), und er verfolgt eine harte Anti-Flüchtlings-Politik. Dabei schreckt er auch nicht vor extremer Rhetorik zurück, nennt die offiziell 3,67 Millionen syrischen Geflüchteten im Land "Invasoren" und spricht sich dafür aus, die Grenze zwischen der Türkei und Syrien zu verminen.
Nun nutzt er die Wut und die Trauer der Menschen in der Türkei über die vielen Erdbebenopfer gezielt aus und stellt syrische Geflüchtete als Sündenböcke dar. Und auch die großen türkischen Oppositionsparteien CHP und Memleket Partisi zeigen ihre große Ablehnung gegen Syrer. "Wir werden sie einzeln auf der Straße einfangen und zurückschicken", rief Muharrem Ince, Chef der Memleket Partisi und Spitzenkandidat der Opposition in der letzten Präsidentschaftswahl, im Januar seinen Anhängern zu.
Auch die regierende AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan verteidigt die Aufnahme der syrischen Flüchtlinge nicht mehr. Erdogan spricht davon, eine Million Syrer nach Nordsyrien umsiedeln zu wollen. Den eigenen Staatsbürgern versprach die türkische Regierung Soforthilfen. Jede türkische Familie soll 15.000 Lira (circa 750 Euro) erhalten. Die Regierung will türkischen Bürger zudem ein Jahr lang die Miete zahlen. Das gilt jedoch nicht für betroffene Syrer.
Zurück in die Trümmer
Nichtregierungsorganisationen machen jetzt auf die prekäre Lage der Geflüchteten aufmerksam. Laut Amnesty International gebe es "glaubwürdige Berichte über verbale und körperliche Angriffe gegen syrische Geflüchtete in der Türkei". Das Syrische Zentrum für Justiz und Rechenschaftspflicht berichtet ebenfalls über Angriffe auf syrische Freiwillige und über eine Gruppe von Aufrührern, die Slogans wie "Lasst uns die Syrer in Hatay erschießen" skandieren.
In vielen Fällen eskaliere das zu offener Gewalt, warnt das Zentrum. Kaum Hilfen und teils offene Anfeindungen: Einige syrische Familien haben sich entschieden, zu den Trümmern ihrer eingestürzten Wohnhäuser in der Provinz Hatay zurückzukehren. An anderen Orten fühlten sie sich nicht sicher.