Todestag von Jina Mahsa Amini Der Traum von einem bunten Iran
Vor einem Jahr starb die 22-jährige Jina Mahsa Amini im nach ihrer Festnahme durch die Sittenpolizei. Es folgten Proteste. Der Wunsch nach Veränderung ist größer denn je, genau wie die staatliche Kontrolle.
Wenn Rojin auf die Straße geht, dann weiß sie nie, ob sie wieder nach Hause zurückkommt oder ob man sie festnimmt. Die 27-Jährige trägt ein lockeres, lilafarbenes T-Shirt und eine weiße Jogginghose, um die Schulter hat sie sich einen schwarzen Turnbeutel geschwungen.
Sie hört Musik und geht durch eine schmale Seitenstraße, die zu einer belebten Hauptstraße führt. "Ich habe zu 100 Prozent Angst. Wenn ich ohne Kopftuch an belebten Plätzen vorbeilaufe, wo oft auch Sicherheitskräfte stehen, schlägt mir das Herz bis zum Hals. Aber ich zeige meine Angst nicht, ich laufe immer weiter."
"Ich spürte nur noch Wut, als ich davon hörte"
Rojin trägt ihre dunklen Haare raspelkurz. Sie hat sie vor einiger Zeit abrasiert, kurz nachdem sie aus dem Gefängnis kam. Dort saß sie mehr als fünf Monate - wegen eines Schilds auf dem der Name "Mahsa Amini" stand.
Am 16. September starb die junge Kurdin, die eigentlich Jina heißt, in einem Teheraner Krankenhaus. Zuvor war sie von der Sittenpolizei festgenommen worden, angeblich weil ihr Kopftuch zu locker saß.
"Ich spürte nur noch Wut, als ich davon hörte", erzählt Rojin, während sie sich eine Zigarette anzündet. "Ich fragte mich: Was kann ich tun? Ich sah im Netz, dass an der Teheraner Uni Studenten den Slogan ‚Frau, Leben, Freiheit‘ riefen, und da wusste ich: Ich muss auch raus und etwas tun."
Die 27-jährige Rojin geht ohne Kopftuch durch die Strassen von Teheran.
Misshandlungen und sexuelle Gewalt
Stundenlang läuft sie mit dem Schild mit Aminis Namen darauf durch die Stadt. Irgendwann zerren sie Polizisten in einen Van. Sie kommt direkt ins Gefängnis, wird dort immer wieder verhört. Die Behörden wollen wissen, ob sie Verbindungen ins Ausland hat, womöglich zu Masih Alinejad, der wohl lautesten Stimme der iranischen Opposition im Exil.
Andere Mitgefangene berichten Rojin später von Misshandlungen und sexueller Gewalt. "Das war eine Zeit voller Stress und Unsicherheit. Eine Art Folter, denn wir blieben immer im Ungewissen, wussten nicht, was mit uns passieren wird."
Protest brutal erstickt
Während Rojin im Gefängnis sitzt, nehmen die Proteste im Iran ihren Lauf. Landesweit gehen damals Menschen auf die Straßen. Schon bald richtet sich die Wut gegen das gesamte islamische System.
Das erstickt die Proteste brutal: Tausende werden festgenommen, Hunderte Demonstranten sollen von Einsatzkräften getötet worden sein, sagen unter anderem die Vereinten Nationen, zum Teil mit scharfer Munition.
Schuld habe das Ausland
Die iranische Regierung leugnet das bis heute. Vor wenigen Tagen gibt Staatspräsident Ebrahim Raisi dem US-amerikanischen Sender NBC ein Interview. Der Reporter fragt ihn nach den Menschenrechtsverletzungen.
"Die, die das ganze provoziert haben, waren die USA und europäische Länder, sie haben versucht, die Situation auszunutzen", erklärt Raisi. "Es kam zu Gewalt - und natürlich können unsere Sicherheitskräfte diesen Terror nicht zulassen."
Mehr Festnahmen vor Jahrestag
Bis heute macht das Regime die Menschen, die aus Protest auf die Straße gingen, zu Kriminellen. Auch die, die die Geschehnisse dokumentieren wollten: Dutzende Journalisten landen im Gefängnis und werden vor Gericht gestellt. Eine davon will die ARD in Teheran treffen.
Zu Beginn der Proteste machte die Fotografin Bilder, für die sie erst ins Gefängnis kam und anschließend zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Doch kurz vor dem vereinbarten Interview kommt ein Anruf von den Behörden: es wird deutlich, dass ein Treffen mit ihr große Probleme bereiten könnte. Um die Gesprächspartnerin und das ARD-Team nicht zu gefährden, wird auf das Interview verzichtet.
In den vergangenen Wochen sollen Dutzende Menschenrechtler, Anwälte, Journalisten, selbst Angehörige von getöteten Demonstranten, vorgeladen und zum Teil verhaftet worden sein - der Versuch, alles rund um den Jahrestag im Keim zu ersticken, sagen viele.
Protest im Alltag
Doch an einer Stelle scheitert das Regime bisher: Wie Rojin tragen inzwischen, vor allem in Großstädten wie Teheran, zahlreiche Frauen kein Kopftuch mehr. Für sie ein Zeichen des Protests im Alltag. "Wenn sie mich draußen ohne Kopftuch sehen, dann wissen sie, dass ich eine Demonstrantin bin", erklärt Rojin.
Deshalb glaube ich aber nicht, dass das Kopftuch das einzige Problem darstellt. Es ist die Diktatur, die Menschen, die getötet werden, die Korruption, das Elend vieler Menschen und die Arbeitslosigkeit. Das Kopftuch abzusetzen ist ein Symbol, um zu sagen, dass ich eine Frau bin und ich Macht habe.
Härtere Strafen
Um Frauen weiter unter Druck zu setzen, legt die iranische Regierung nach: Im Parlament soll kommende Woche sogar ein Gesetz verabschiedet werden, das die Strafen noch verschärft: Geldbußen bis zu 1000 Euro bei Verstößen gegen die Kleiderordnung, Ausreisesperren, kein Zugang mehr zu Bankkonten - bis hin zu langen Haftstrafen.
Das sei wohl nötig, glaubt Marzieh Yeganeh. Die 37-Jährige leitet eine staatliche Bibliothek. Sie trägt Tschador, den schwarzen Ganzkörperschleier. Das System unterstützt sie fast bedingungslos.
Als sie auf den Tod von Jina Mahsa Amini vor einem Jahr angesprochen wird und die Proteste, die es daraufhin gab, sagt sie: "Dieser Vorfall, dieser Fehler kann ja von einer Person verursacht worden sein."
"Irrgeleitete Demonstranten"
"Aber diese Leute", sagt Marzieh Yeganeh, "die auf die Straße gingen, hätten das nicht so eskalieren lassen sollen, dass es am Ende der gesamten Gesellschaft schadet". Yeganeh nennt die Demonstranten "irrgeleitet", beeinflusst vom Westen und seinen Medien, das sagt sie ganz direkt.
Die Konsequenz seien schärfere Maßnahmen, glaubt sie: "Manche Menschen verstoßen gegen die Regeln und tauchen in hässlicher Kleidung in der Öffentlichkeit auf. Sie stören damit den geistigen Frieden der Gesellschaft."
"Keine Gerechtigkeit"
Rojin träumt von einem bunten Iran. Inzwischen ist sie wieder zu Hause. In ihrer kleinen Wohnung hängen bunte Kleider, Hüte und Taschen an einem Ständer. Nicht alles davon traut sie sich draußen zu tragen.
Auf ihren Mittelfinger hat sie sich die Waage der Justitia tätowieren lassen. "Im Iran gibt es keine Gerechtigkeit", sagt sie, deswegen der Mittelfinger. "Ich wünsche mir, dieses System loszuwerden." Zurück zur Monarchie wolle sie nicht, sagt sie. "Demokratie sollte im Iran herrschen. Ich glaube fest daran, dass Gleichberechtigung möglich ist."
Allerdings, schiebt sie hinterher, sei sie nicht sicher, ob sie das jemals miterleben wird. Denn der Weg dorthin sei lang, auch wenn der Wunsch nach Veränderung größer ist denn je.