UN in Syrien Dem Diktator zu nah?
Millionen Syrerinnen und Syrer sind von humanitärer Hilfe der UN abhängig. Doch immer öfter werden Vorwürfe laut, dass die Vereinten Nationen nicht nur den Menschen, sondern auch dem syrischen Präsidenten Assad helfen.
Für viele Beobachter dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis die ersten Lkw mit UN-Hilfsgütern nach dem schweren Erdbeben Anfang Februar über die Grenze nach Idlib rollten. Während die internationale Hilfe in der Türkei schon nach wenigen Stunden anlief, mussten die Menschen im Nordwesten Syriens rund 80 Stunden warten, bis sechs Lastwagen am türkisch-syrischen Grenzübergang Bab al-Hawa eintrafen.
Ein paar Zelte, Decken und Waschmittel hatten sie geladen. Spezifische Katastrophenhilfe war nicht dabei. Die Enttäuschung war groß: "Was hat die UN daran gehindert, früher Hilfe zu schicken? Sie meinen es nicht ernst, wenn es darum geht, das Leben von Syrern und Syrerinnen zu retten", sagt Ramy Abdelrahman, Leiter der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte.
Auch in den Wochen danach tröpfelten UN-Hilfslieferungen lediglich in den Nordwesten des Landes. Zwei weitere Grenzübergänge wurden erst mehr als eine Woche nach dem Beben für UN-Hilfen geöffnet - dem waren zähe Verhandlungen im Sicherheitsrat vorausgegangen.
Was fordert das Völkerrecht?
Syrerinnen und Syrer, aber auch viele Fachleute erhoben daraufhin schwere Vorwürfe: Die UN orientierten sich viel zu sehr am syrischen Präsidenten Baschar al-Assad und seinem Verbündeten Russland.
Syrien-Experte Carsten Wieland ist überzeugt, dass das Völkerrecht schon viel weiter ist: "Das Völkerrecht erkennt an, dass eine humanitäre Katastrophe weitaus mehr wiegt als die absolute Souveränität eines Staats. Mit anderen Worten: Heute kann ein Diktator, ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher wie Assad, nicht mehr mit seiner Bevölkerung machen, was er will."
Die UN hätten demnach weder auf die Zustimmung von Assad noch auf die Zustimmung von Russland im Sicherheitsrat warten müssen, um humanitäre Hilfe in Gebiete zu liefern, die nicht von Assad kontrolliert werden. Das hatte 2014 und 2023 bereits eine Expertenkommission aus prominenten Völkerrechtsanwälten und Richtern aufgezeigt.
Geld und Aufträge an Assad-Getreue
Doch nicht nur im von Aufständischen kontrollierten Nordwesten Syriens machten sich die UN zum Vasallen von Assad, so die Kritik. Seit Jahren häufen sich Berichte über Probleme der UN in Syrien.
Experten der Organisationen Observatory of Political and Economic Networks aus Kanada und Syrian Legal Development Programme aus Großbritannien untersuchten die hundert größten Partner der UN in Syrien. In einer im Herbst 2022 veröffentlichten Studie wiesen sie nach, dass in den vergangenen Jahren ein großer Teil von UN-Hilfsgeldern in die Taschen von Personen floss, die dem Assad-Regime nahestehen oder direkt vom Bürgerkrieg profitiert haben.
UN-Organisationen wie das Welternährungsprogramm vergeben Beschaffungsaufträge an syrische Unternehmen, deren Inhaber wegen Kriegsverbrechen auf den Sanktionslisten der EU und USA stehen. Rund 140 Millionen Dollar aus dem UN-Beschaffungsprogramm sollen alleine 2019 und 2020 an Lieferanten und Dienstleister gegangen sein, die als regimetreu eingestuft werden.
Verstöße gegen Sanktionen
Der Direktor des Welternährungsprogramms in Syrien, Kenn Crossley, weist die Vorwürfe zurück: "Selbstverständlich kennen wir die Anschuldigungen. Bei Auftragsvergaben halten wir uns aber an die UN-Sanktionsliste." Die Vergabe von Aufträgen werde unabhängig und "nach bestem Wissen und Gewissen" durchgeführt.
Die im vergangenen Herbst veröffentlichte Studie lässt jedoch berechtigte Zweifel daran aufkommen, ob sich die UN-Organisationen wirklich an die von Crossley genannte Liste halten. So stehen auf der UN-Sanktionliste zum Beispiel Personen wie der Milizenchef Fadis Sakr. Seine Miliz war für das berüchtigte Tadamon-Massaker verantwortlich, bei dem etwa 280 Menschen brutal getötet wurden. Trotzdem konnte er als Geschäftsmann Schuhe und Kleidung im Millionenwert an UN-Hilfswerke in Syrien liefern.
"UN verspielen Unabhängigkeit"
Die Vorwürfe gehen weiter. Recherchen der Nachrichtenagentur AP zufolge soll die Leiterin der Weltgesundheitsorganisation in Syrien Assad-Getreuen immer wieder Geschenke gemacht haben. Demnach seien unter anderem teure Computer, Goldmünzen und wertvolle Autos an mehrere Vertraute von Assad gegangen. Außerdem sollen zahlreiche Familienmitglieder von Regimevertretern Arbeitsverträge bei UN-Hilfswerken bekommen haben.
Crossley weicht im Interview aus. Man schaue sich Bewerber zwar nicht in diesem spezifischen Punkt an, aber Hintergrundrecherchen zu den Angaben der Bewerber mache man schon: "Wir gucken auf die Kompetenzen, die man bei einem Bewerbungsprozess erwartet, erst dann stellen wir einen Arbeitsvertrag aus."
Doch dadurch, dass UN-Organisationen wie das Welternährungsprogramm nicht darauf schauen, welcher ihrer Angestellten wie mit dem Regime verbandelt sei, verspielten die UN ihre Unabhängigkeit, meint Wieland:
Ich habe mit Mitarbeitern gesprochen, die in den UN-Hilfsorganisationen in Syrien arbeiteten. Die haben mir gesagt, dass sie sich nicht mehr getraut hätten, in ihren internen Sitzungen offen zu sprechen. Aus Angst, dass ein Verwandter eines Generals mit am Tisch sitzt.
Wenn Äußerungen dann mal zu kritisch seien, könnten diese schnell an den Geheimdienst weitergegeben werden, so Wieland.
Assad untermauert seine Legitimität
Andere Recherchen zeigen, dass der syrische Machthaber es geschafft hat, die Zusammenarbeit mit der UN auch finanziell für sich zu nutzen. So setzte das Regime zum Beispiel einen Wechselkurs fest, zu dem Hilfsorganisationen Gelder ins Land überweisen müssen. Dieser Kurs ist so schlecht, dass mitunter 51 Cent von jedem überwiesenen Euro in den Taschen der syrischen Regierung landeten.
Fachleute wie Wieland sind überzeugt, dass der mutmaßliche Kriegsverbrecher die Kooperation mit Hilfsorganisation auch nutzt, um seine Legitimität und seinen Machtanspruch auf der internationalen Bühne zu untermauern. Assad entferne sich immer weiter vom Genfer Prozess, meint Syrien-Experte Wieland.
"Der Prozess wurde ja eigentlich dazu geschaffen, um Reformen in Syrien auf den Weg zu bringen, um die Menschenrechtslage zu verbessern und im Idealfall am Ende sogar für freie Wahlen zu sorgen", so Wieland. "Doch von all dem sind wir aktuell weit entfernt."
Ein schwieriger Balanceakt
Zwölf Jahre Krieg, Terror und Krisen haben UN-Organisationen zu einer überlebenswichtigen Stütze für Millionen Syrerinnen und Syrer gemacht. Täglich sorgen Mitarbeitende der Vereinten Nationen unter schwierigsten Umständen dafür, dass Menschen in Syrien Nahrung, Medikamente und Zuflucht bekommen.
Wollen sie diese Hilfe gewährleisten, sehen sich Berichten zufolge viele Verantwortliche oft dazu gezwungen, mit den korrupten Behörden zusammenzuarbeiten - ob sie wollen oder nicht. Es ist eine Situation, die der syrische Präsident Baschar al-Assad offenbar für sich zu nutzen gelernt hat.