Neues Mediengesetz in der Türkei "Die gesamte Opposition verschärft im Fadenkreuz"
Mit dem sogenannten Desinformationsgesetz versucht der türkische Präsident Erdogan, die Opposition im Land einzuschüchtern. Die Selbstzensur in den sozialen Medien nimmt zu, doch einige Medienschaffende widerstehen der Angst.
Sommer 2021: In der Türkei toben die schlimmsten Waldbrände seit Jahren. Eine Frau steht in ihrem Dorf und ruft "Hükümet istifa!" - die Regierung solle zurücktreten. Wie sie werfen Tausende der Regierung auch über soziale Medien Versagen vor. Sie sei schuld, dass Gerät fehlte, um die Waldbrände besser zu bekämpfen.
Die Regierung steht unter Druck - und reagiert, sagt Juraprofessor Yaman Akdeniz dem ARD-Hörfunkstudio Istanbul: "Die Waldbrände und die Reaktionen darauf waren für die Regierung ein Auslöser zu handeln. Sie war über die sozialen Medien aufs Schärfste kritisiert worden. Kurz darauf hat sie ein Desinformationsgesetz angekündigt."
Drei Jahre Haft für Verbreitung von "Falschinformationen"
Seit Mitte Oktober gilt es. Bis zu drei Jahre Haft drohen für "Falschinformationen" - egal, ob sie von Journalisten oder einfachen Nutzern sozialer Medien kommen. Die Regierung wolle so erreichen, dass vor allem normale Bürgerinnen und Bürger weniger Kritik äußern, glaubt der Journalist Bülent Mumay. Jegliche Meinungsäußerungen fielen stärker ins Gewicht als früher - zumal vor den Wahlen im kommenden Juni. Und die Rechnung geht offenbar auf, sagt er:
Die Menge der Kritik, der oppositionellen Stimme hat sich verringert. Dieses Gesetz wurde im Grunde ja nicht eingeführt, um die Menschen ins Gefängnis zu stecken, sondern um sie einzuschüchtern, sie zu verängstigen. Das hat gewirkt.
So würden etwa auch seine Beiträge in sozialen Medien seltener geteilt als früher. Die Menschen wüssten, dass sie selbst für einen Retweet in Schwierigkeiten kommen können.
Strafverfahren auch gegen Ausländer
In Deutschland kennen Mumay einige aus seiner kritischen Kolumne "Brief aus Istanbul" in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Dort schreibt er zwar für ein deutschsprachiges Publikum. Doch das biete keinen Schutz, sagt Rechtswissenschaftler Akdeniz - ebenso wenig wie eine andere Staatsangehörigkeit.
Das zeigten schon frühere Anklagen etwa wegen Präsidentenbeleidigung oder Terrorpropaganda: "Nach der offiziellen Statistik kommt es wegen dieser Delikte zu Strafverfahren auch gegen Ausländer, die in der Türkei leben", sagt Akdeniz. "Sie sind also von der strafrechtlichen Verfolgung nicht befreit."
Erster Angeklagter ist ein Oppositionspolitiker
Der Erste, der wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das "Desinformationsgesetz" angeklagt wurde, ist Kemal Kilicdaroglu. Er ist Vorsitzender der oppositionellen CHP und bei der nächsten Wahl möglicher Gegenkandidat von Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan. Kilicdaroglu hat die Regierung beschuldigt, sie dulde Drogenbarone im Land, weil sie deren Geld brauche. Ihn deshalb anzuklagen verfolgt einen bestimmten Zweck, glaubt Sezin Öney von der Online-Zeitung "Politikyol": "Das ist auch eine Gelegenheit, um die Leute zu erschrecken - damit sie sich selbst zensieren."
Von Selbstzensur möchte Erdal Güven nicht reden. Er ist Chefredakteur des unabhängigen Online-Mediums "diken". Aber spurlos geht das neue Gesetz offenbar auch an ihm und seinen Leuten nicht vorbei:
Wir werden unseren Journalismus nicht an dieses Gesetz anpassen. Aber wir müssen natürlich viel vorsichtiger sein, damit wir ihnen keinen unnötigen Anlass geben, das Gesetz auf uns anzuwenden.
Dabei gibt es ja schon lange Straftatbestände wie Terrorunterstützung und Präsidentenbeleidigung, nach denen viele Menschen, auch Journalisten, angeklagt und verurteilt wurden. Mit dem neuen Gesetz gegen Desinformation kommt ein neuer Straftatbestand hinzu. Für sie führt es zu einer weiteren Schere im Kopf, sagt Sezin Öney von "Politikyol": "Es gibt schon viele Scheren, und sie werden immer größer. Nun kommt eine weitere. Man kann vielleicht sagen: Es macht alles eine Nummer größer."
Doch eben nicht nur für Journalistinnen und Journalisten. Das Gesetz sei ein Instrument gegen so ziemlich alle, die anderer Meinung sind als die Regierung von Präsident Erdogan, meint Juraprofessor Akdeniz: "Nicht nur Medien, auch Nichtregierungsorganisationen und Menschenrechtler - insbesondere Frauenrechts- und LGBT-Gruppen - die gesamte oppositionelle Gesellschaft steht verschärft im Fadenkreuz dieses neuen Straftatbestandes."
Und eben auch andere Nutzer sozialer Medien, Einzelpersonen, ganz normale Nutzer von Social Media. Dass es auch für sie gilt, führt möglicherweise zu noch schwerwiegenderen Folgen als nur einer Schere im Kopf, so Öney:
Wenn sie anfangen, sich zurückzuziehen und nicht mehr an den politischen Debatten teilnehmen, könnte das sogar zu einem Rückgang der Wahlbeteiligung führen.
Ein Abgeordneter der Partei HDP demonstriert im türkischen Parlament gegen das sogenannte Desinformationsgesetz.
"Angst bewahrt nicht vor dem Tod"
Für unabhängige und regierungskritische Journalistinnen und Journalisten in der Türkei ist so eine Befürchtung womöglich Ansporn, erst recht weiterzuarbeiten wie bisher. Er werde sich deshalb jedenfalls nicht zurücknehmen, sagt Kolumnist Mumay und zitiert ein Sprichwort: "Angst bewahrt nicht vor dem Tod" und sagt:
Wir haben erlebt, wie sich ein Mann, der das Land regiert, zum Autokraten entwickelt hat und wir haben gelernt, dass ein Autokrat sich keine Grenzen setzt. Weil ich ihm inzwischen alles zutraue, habe ich keine Angst mehr.
Aber vorsichtiger, ja, das sei sie, sagt "Politikyol"-Redakteurin Öney. Manchmal warne sie Angehörige und Freunde aufzupassen, damit das, was sie posten oder sagen, keine rechtlichen Folgen hat. Und auch sie selbst formuliere auf eine Art und Weise, von der sie glaubt, dass es keine rechtlichen Konsequenzen hat. Selbstzensur sei das. Wie sehr sie sich der letztlich unterwerfe, spüre sie besonders, wenn sie das Land verlasse:
Wenn du zum Beispiel weg bist aus der Türkei, irgendwie weit weg, dann fängst du an, freier zu sprechen. Dann verstehst du, wie viel Selbstzensur du dir auferlegst.