Briten stimmen über Brexit ab Brüssel fürchtet den Präzedenzfall
Der drohende Ausstieg der Briten aus der EU sorgt in Brüssel naturgemäß für enorme, nur mühsam kaschierte Nervosität. Denn ein Brexit dürfte noch unabsehbare Folgen haben. Doch auch wenn die Briten sich heute fürs Bleiben entscheiden: Ein "Weiter so" wird es nicht geben können.
Selbst an diesem Schicksalstag für Europa versuchte der Chef der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, Gelassenheit auszustrahlen. Und unter Beweis zu stellen, dass er seinen Humor jedenfalls noch nicht verloren hat: "Wie Sie wissen, ist der 23. Juni ein sehr wichtiger Tag für Europa - nicht wegen Großbritannien, sondern weil es ist ein nationaler Feiertag in Luxemburg ist", witzelte Juncker nach einem Treffen mit dem Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas.
Im Prinzip liefen die Brüsseler Geschäfte am Tag der britischen Abstimmung ganz normal weiter. Doch in Gedanken sind die meisten Offiziellen jenseits des Ärmelkanals. Bei einem Empfang mit hochrangigen EU-Politikern gestern Abend in Brüssel gab es jenseits des eigentlichen Anlasses fast nur ein Gesprächsthema: Den drohenden Brexit. Und auch Juncker verabschiedete sich von Abbas entschuldigend mit den Worten: "Ich muss mich jetzt auf Großbritannien konzentrieren. Also, vielen Dank."
Jedem ist klar in Brüssel, welche Erschütterungen es in Europa auslösen würde, wenn sich erstmals in der Geschichte tatsächlich ein Mitgliedsstaat für die Abnabelung von der EU entscheiden sollte. Die Nervosität ist deshalb auch allerorten spürbar. "Es wäre eine Katastrophe, wenn die Briten die EU verlassen. Nicht nur für sie selbst. Es wäre schlecht für Deutschland, eigentlich für die ganze EU", sagt der Brite Dennis Abbott, der seit über 15 Jahren in Brüssel lebt und arbeitet.
Die Union muss in sich gehen
Egal, wie seine Landsleute sich entscheiden: In jedem Fall werden sich Juncker & Co, also die Chefs aller EU-Institutionen, morgen Vormittag treffen. Ziel wird es dann zunächst sein, die richtigen Worte zu finden. Und zu vermeiden, dass alle durcheinander reden. Gerade im Falle eines Brexits dürfte die EU klarstellen, dass ein Land sich verabschiedet. Aber der Rest zusammenbleibt. Und dann wird es spannend: "Man befindet sich dann in völligem Neuland und hat das noch nie gemacht. Auch die Rechtsberater hier in Brüssel kennen keinen Präzedenzfall. Also wird man improvisieren müssen", sagt der Politikexperte Jan Techau von der Brüsseler Denkfabrik Carnegie Europe mit Blick auf die hochkomplizierte Scheidungs-Vereinbarung, die Briten und EU dann irgendwann auszuhandeln hätten.
Aber selbst in dem Fall, dass die Beziehung hält, dürfte die Union in sich gehen und zu ergründen versuchen, warum die Menschen in Europa, nicht nur auf der Insel, die EU zunehmend als Feind, nicht als Freund wahrzunehmen scheinen. "Deshalb muss Europa besser funktionieren", meint der Fraktionschef der konservativen EVP-Fraktion im EU-Parlament, Manfred Weber. Ob aber Europa mit mehr oder weniger EU oder einfach einer anderen EU am besten funktioniert, darüber wird in Zukunft viel diskutiert werden. So oder so.
"Out is out"
Was aber die Briten betrifft, so wollte man sich von EU-Seite nicht einfach nur in sein Schicksal ergeben und schickte bis zuletzt deutliche Warnungen über den Kanal. EU-Kommissionschef Juncker stellte klar, dass die Wähler eine Entscheidung träfen, die sich nicht wieder rückgängig machen ließe: "Out is out" - was in der von EVP-Chef Weber gelieferten, deutschen Übersetzung heißt: "Wer raus geht, geht raus."
Einen anders formulierten, letzten Versuch, die Inselbewohner zu überzeugen, machte am Morgen in Brüssel ein Unbekannter: Vor der britischen Botschaft hatte jemand mit Blumen die Worte "Please stay" - "Bitte bleibt" - auf den Asphalt gelegt.