Corona und häusliche Gewalt "Man muss mit dem Schlimmsten rechnen"
Ausgangsbeschränkungen wegen der Corona-Krise können die Lage von Opfern häuslicher Gewalt verschärfen, denn sie sind mit ihren Peinigern quasi eingesperrt. Erste Zahlen sind beunruhigend.
Quarantäne, Ausgangsbeschränkungen, geschlossene Schulen, Home Office, Kurzarbeit, Zukunftsangst: Viele Familien stehen in der Corona-Krise vor großen Herausforderungen. Konflikte und Streits drohen zu eskalieren, weil man sich nicht aus dem Weg gehen kann. Richtig gefährlich wird es dann, wenn es in den eigenen vier Wänden schon vor der Pandemie zu Gewalt kam.
Experten warnen seit Längerem vor einem Anstieg häuslicher Gewalt in der Corona-Krise. Jetzt scheinen erste Zahlen und Erhebungen die Befürchtungen zu bestätigen. Laut der Generalsekretärin des Europarats in Straßburg, Marija Pejcinovic Buric, zeigen Berichte aus den EU-Mitgliedsstaaten, dass Kinder und Frauen derzeit in ihrem Zuhause einem höheren Missbrauchsrisiko ausgesetzt sind als vor dem Ausbruch der Pandemie.
Hilferufe per Telefon schwieriger als sonst?
Allerdings gelinge es den Opfern offenbar seltener, telefonisch Hilfe zu holen: Dies belegten etwa Zahlen aus Frankreich. Bei dortigen Notrufstellen gingen weniger Anrufe ein als sonst. Pejcinovic Buric erklärt sich das damit, dass Frauen und Kinder von ihren Peinigern davon abgehalten würden, telefonisch um Hilfe zu rufen. Denn gleichzeitig steige die Zahl der Sofortnachrichten im Internet - und zwar nicht nur in Frankreich, sondern europaweit. In Dänemark etwa habe die Zahl der Frauen zugenommen, die Zuflucht in einem Frauenhaus suchten.
Der Europarat mit Sitz in Straßburg hat unter anderem die Aufgabe, über die Einhaltung der Menschenrechte in den EU-Staaten sowie in der Schweiz, Russland, der Türkei, der Ukraine und Aserbaidschan zu wachen. Dabei arbeiten Stellen des Rates gerade jetzt auch eng mit den Behörden der einzelnen Staaten zusammen.
Wie an Weihnachten - nur viel schlimmer
In Deutschland kümmert sich der Weiße Ring um das Thema häusliche Gewalt. Der Bundesvorsitzende der Opferschutzorganisation, Jörg Ziercke, ist alarmiert: "Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen." Der ehemalige Chef des Bundeskriminalamts weiß: "Die Corona-Krise zwingt die Menschen, in der Familie zu bleiben. Hinzu kommen Stressfaktoren wie finanzielle Sorgen und Zukunftsunsicherheit."
Opferhelfern sei das Problem von Festtagen wie Weihnachten bekannt, wenn Menschen längere Zeit gemeinsam zu Hause seien: Immer dann gingen die Fallzahlen in die Höhe. "Die Kontaktsperre wegen Corona dauert aber sehr viel länger als Weihnachten, und die Stressfaktoren sind auch größer", so Ziercke.
Gerade Kinder sind ihren Peinigern schutzlos ausgeliefert
Gerade auch für Kinder könnten die Ausgangsbeschränkungen gefährlich werden, warnt die Leiterin des Lehrstuhls Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität des Saarlandes, Tanja Michael. "Die Täter haben jetzt viel mehr Zugriff auf die Kinder, und die Kinder haben weniger Möglichkeiten, nach außen Signale zu senden, dass etwas nicht stimmt." Und: Die Täter seien vermutlich in der derzeitigen Situation "noch schlechter gelaunt als normalerweise", so Michael.
Erste Untersuchungen habe man in der chinesischen Millionenmetropole Wuhan durchgeführt - dem Ort, an dem Corona das erste Mal auftrat. Dort hätten Frauenhäuser in der Quarantänezeit dreimal so viele Opfer häuslicher Gewalt registriert. Außerdem habe die Polizei doppelt so viele Notrufe von Frauen bekommen wie sonst, berichtet Michael.
"Perfide Gewalt"
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, befürchtet wegen der Corona-Krise auch eine Zunahme sexueller Gewalt gegen Kinder. "Jeder, der sich im Kinderschutz engagiert und für das Kindeswohl kämpft, der ist im Moment in größter Sorge", sagte Rörig im rbb. "Die Täter und Täterinnen können jetzt noch unbemerkter vom sozialen Umfeld ihre perfide Gewalt ausüben", so der Missbrauchsbeauftragte. Daher sei es jetzt besonders tragisch, dass die Jugendämter nur auf Sparflamme oder im Notbetrieb arbeiten könnten.
Wer einen Verdacht auf Gewalt oder sexuellen Missbrauch in der Familie habe, solle Nachbarn nicht direkt ansprechen, sondern sich direkt professionellen Rat suchen, riet Rörig. Das seien Jugendämter, die Polizei oder viele andere Beratungsangebote. Auf der Website des Beauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs seien hilfreiche Tipps und Telefonnummern zusammengestellt.
Die soziale Kontrolle fällt weg
Doch oftmals sei genau dies das Problem: der Wegfall der sozialen Kontrolle, erklärt die Vize-Chefin der Berliner Gewaltschutzambulanz, Saskia Etzold: "Der Bereich, in dem sonst häusliche Gewalt gegen Kinder auffällt, also in Schulen, Kitas oder bei Tagesmüttern, ist ja gerade weggefallen." Bei eingeschränkter Öffentlichkeit würden Verletzungen jetzt weniger bemerkt.
"Wir müssen wohl davon ausgehen, dass innerfamiliäre Gewalt in den nächsten Wochen deutlich ansteigt", so Etzold. In der Berliner Charité, zu der die Ambulanz gehört, haben Opfer - sowohl Kinder, als auch Erwachsene - die Möglichkeit, ihre Verletzungen von Rechtsmedizinern vertraulich und kostenlos dokumentieren zu lassen.
Maßnahmen von Bund und Ländern
Bundesfrauenministerin Franziska Giffey hat mit ihren Kollegen aus den Ländern bereits Maßnahmen vereinbart. So bleiben etwa die Hilfetelefone gegen Gewalt an Frauen und für Schwangere in Not geschaltet. Beratung für Schwangere, die über eine Abtreibung nachdenken, soll es auch online oder am Telefon geben. Falls Frauenhäuser überfüllt sind, sollen die Behörden vor Ort prüfen, ob etwa leerstehende Hotels und Ferienwohnungen angemietet werden können.