interview

Gesundheits-Experte über Wuhan "Es war wie eine Geisterstadt"

Stand: 20.08.2020 17:24 Uhr

Chikwe Ihekweazu ist Leiter des "Nigeria Centre for Disease Control". Er war mit einer WHO-Mission als einer der ersten ausländischen Experten am Ausbruchs-Ort des neuen Corona-Virus. Im Interview spricht er darüber, wie Nigeria mit der Pandemie umgeht und wie er die Reise nach Wuhan erlebt hat.

tagesschau.de: Waren Sie gleich alarmiert, als sie von den ersten Infektionen in Wuhan erfahren haben?

Chikwe Ihekweazu: Zunächst hieß es, dass alle Infizierten mit dem Markt in Wuhan zu tun hatten. Also dachten wir natürlich, da gebe es einen lokalen Ausbruch. In den ersten Tagen waren wohl alle davon ausgegangen, dass es eine einzelne Infektionsquelle gebe. Und wie die meisten Ausbrüche mit nur einer Infektionsquelle hört das von allein wieder auf. Und danach untersuchen wir den Ausbruch, finden heraus, was es war, und leben weiter wie vorher ... Na ja, heute wissen wir, dass es nicht so war

tagesschau.de: Wie ist das Virus nach Nigeria gekommen?

Ihekweazu: Am Anfang waren wir alle total fokussiert auf China. Jede Person, die aus China nach Nigeria kam, wurde von Kopf bis Fuß untersucht. Und dann war der erste Fall bei uns ein Kerl aus Italien. Wir sind das in Nigeria nicht gewohnt, dass eine Infektionskrankheit aus Westeuropa eingeschleppt wird. Normalerweise ist es anders herum. Aber wir haben es gut hinbekommen. Wir gehen davon aus, dass diese Person nur eine weitere angesteckt hat. Aber dann wuchs die Angst in Westeuropa. Und das führte dazu, dass viele Nigerianer zurückgekommen sind: aus Großbritannien oder Deutschland zum Beispiel. Es gab eine Phase, als darüber diskutiert wurde, den internationalen Reiseverkehr zu stoppen, da sind viele schnell noch losgeflogen. Viele dieser Rückreisenden, vor allem aus Großbritannien, wo damals wenig getestet worden wurde, haben das Virus dann in Nigeria verbreitet.

tagesschau.de: Wie versucht Nigeria, das Virus einzudämmen?

Ihekweazu: Das ist in vielen Ländern ein fast unmögliches Unterfangen. In Nigeria haben wir ja wegen des Klimas, unserer Bevölkerungsdichte und den sozioökonomischen Umständen leider schon viele Epidemien gehabt. Dadurch haben wir auch gelernt, damit umzugehen. Aber dieses Virus ist etwas völlig anderes. Es ist frustrierend, wenn du feststellst, dass die Maßnahmen, die wir bei einem normalen Ausbruch ergreifen, nicht funktionieren und das Virus sich weiter verbreitet. Wegen der vielen Patienten, die nur milde oder gar keine Symptome zeigen, ist es sehr schwierig, die Ausbreitung zu kontrollieren - in unserem Gesundheitssystem mit seinen bescheidenen Mitteln. Wir haben uns also dazu entschlossen, harte Maßnahmen zu ergreifen, mit einem Lockdown. Aber wir haben schnell gemerkt, dass es unmöglich ist, das hier bei uns effektiv durchzusetzen. Es ist weiterhin eine beängstigende Situation.

tagesschau.de: War es dann falsch, den Lockdown zu verhängen?

Ihekweazu: Ich glaube, es war die einzige Entscheidung, die wir treffen konnten. Damals dachte ich, dass sich die Ausbreitung nur mit einem Lockdown kontrollieren lässt. Das Epizentrum des Ausbruchs war in Lagos. Das ist eine unglaublich eng besiedelte Stadt. Und wir mussten einfach Zeit gewinnen, um Maßnahmen einzuleiten und Erkrankte in Kliniken versorgen zu können. Aber ich habe nie gedacht, dass es möglich ist, damit wirklich den Ausbruch zu stoppen. Das Gute ist, dass unsere politische Führung auf unsere Ratschläge gehört hat. Ich bin ein wenig stolz darauf, dass die Wissenschaft einen großen Teil der Pandemie-Bekämpfung gesteuert hat. Aber mit den andauernden Beschränkungen hat sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert und auch die Sicherheit. Es gab regelrechte Ausschreitungen, weil die Menschen ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen konnten. Deshalb wurde entschieden, die Maßnahmen zu lockern. Wir sind dabei sehr vorsichtig, versuchen die richtigen Entscheidungen für das Land zu treffen, was nicht einfach ist - aber damit sind wir wohl weltweit nicht alleine.

tagesschau.de: Was fehlt Ihnen in Nigeria derzeit, um den Ausbruch besser in den Griff zu bekommen?

Ihekweazu: Es sind vor allem zwei Dinge: zunächst die Tests. Die sind extrem wichtig, aber auch aufwändig und teuer. Selbst wenn man viel Geld hat, dauert es lange, die Testkapazitäten in ausreichend Maß zu erhöhen. In Deutschland konnte man die schon vorhandenen Technologien nutzen. Aber wir müssen das alles komplett neu aufbauen. Das dauert einfach zu lange. Ein schneller, einfacher Test würde die Situation völlig verändern. Aber mittelfristig hoffe ich, dass dieser Ausbruch dazu führt, dass die Menschen wieder mehr Respekt vor Viren und Bakterien haben werden und die Wissenschaft stärker fördern. Ich hoffe, dass sich mehr Menschen für Virologie, Epidemiologie und Mikrobiologie interessieren und wir da Expertisen aufbauen können, um zu verstehen, wie sich solche Infektionskrankheiten ausbreiten. Die meisten dieser Krankheiten verbreiten sich ja leider auf unserem Kontinent und einigen anderen Teilen der Welt. Aber die wichtigsten Experten für Tropenmedizin sitzen in Großbritannien, Belgien oder Heidelberg. Wir müssen uns hier neu ausrichten.

tagesschau.de: Das Virus scheint in Nigeria und anderen afrikanischen Ländern etwas milder zu verlaufen, als beispielsweise in Westeuropa. Es gibt weniger Fälle. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Ihekweazu: Das ist für uns eine große Frage. Als Wissenschaftler hassen wir es zu sagen, "ich weiß es nicht". Aber so ist es nun einmal. Ja, wir testen weniger. Aber es ist auch nicht so, dass unsere Krankenhäuser überlaufen werden von Patienten. Also irgendeinen Unterschied gibt es. Es gibt viele Faktoren, die eine Rolle spielen können. Einer ist sicherlich die Demografie. Wir haben hier schlicht weniger alte Menschen - leider. Es ist nichts, worauf wir stolz sind, aber so ist es eben. Hinzu kommt, dass unsere Senioren selten in Altenheimen leben, anders als in Westeuropa. Auch das könnte ein Grund sein. Wir müssen uns das längerfristig anschauen. Im Moment wissen wir nicht, woran es liegt.

tagesschau.de: Sie waren Teil der WHO-Mission, die im Februar nach China gereist ist. Wie haben Sie das Land erlebt?

Ihekweazu: Es war wie eine Geisterstadt. Ich muss gestehen, ich hatte von Wuhan vorher nie etwas gehört, vor dem Ausbruch. Und dann kamen wir in der Nacht dort an, sahen die ganzen Lichter und die Wolkenkratzer, aber und das war niemand, absolut niemand. Auf dem Bahnhof, der so riesig ist wie der Flughafen von Paris: Niemand war da. Wir waren drei Tage dort, und die ganze Stadt war leer. Als ich an einem Abend mit einem Kollegen durch die Nachbarschaft spaziert bin, haben wir erst verstanden, wie die Gesellschaft dort damals funktionierte: Drei, vier Häuserblocks hatten gemeinsam nur einen kontrollierten Zugang. Die einzigen offenen Geschäfte waren Imbisse, und die durften nur innerhalb ihres Viertels ausliefern. So funktionierte die ganze Stadt.

tagesschau.de: Das klingt so, als habe sie beeindruckt, was sie dort gesehen haben. Hat Sie nichts daran gestört?

Ihekweazu: Damals habe ich schon die Art bewundert, wie die Gesellschaft reagiert hat, um Übertragungen zu verhindern, und wie die Versorgung der Infizierten in den Krankenhäusern funktioniert hat. Das war eine beeindruckende Anstrengung. Dennoch haben wir viel über den Umgang mit dem Ausbruch diskutiert und auch gestritten. Wir waren ein internationales Team und ein Team chinesischer Wissenschaftler, aber es war nicht so, dass die chinesischen Kollegen immer der einen und wir der anderen Meinung waren. Und ich kann jetzt auch nur über das sprechen, was ich dort gesehen und gehört habe und keine tiefgreifenden Schlussfolgerungen daraus ziehen. Dafür hatten wir nicht genügend Zeit.

tagesschau.de: Denken Sie, dass Sie auf Ihrer Mission ausreichend informiert worden sind und darauf vertrauen konnten, dass es stimmt?

Ihekweazu: Das ist schwer zu sagen. Es obliegt mir nicht, das zu entscheiden. Bis heute lernen wir ständig neue Dinge über das Virus. Selbst mir fällt es schwer, die Bevölkerung von Nigeria zu überzeugen, dass sie uns glauben müssen. Weil sich vieles widerspricht: Zum Beispiel haben manche starke Symptome, manche gar keine. Genauso wenig wissen wir, was in der Anfangsphase passiert ist. Ich muss meine wissenschaftlichen Kollegen da natürlich erst einmal beim Wort nehmen. Mein Eindruck war, dass es in Chinas Interesse gewesen ist, ehrlich mit uns zu sein. Wir waren auf einer wissenschaftlichen Mission, ohne politische Agenda. Ich hätte mir in erster Linie gewünscht, mehr Zeit zu haben und auch vielleicht mehr Zugang. Aber ich habe auch verstanden, dass das gerade nicht geht - mitten in dem unglaublichen schwierigen Kampf, den Ausbruch zu kontrollieren.

Das Gespräch führten Christian Baars und Jan Lukas Strozyk, NDR