EU-Bericht zur Türkei Nah am Abgrund
Die Türkei bewegt sich derzeit politisch immer weiter weg von Europa. Entsprechend negativ fällt der diesjährige EU-Bericht über den Beitrittskandidaten aus. Vieles ist schon durchgesickert, heute wird er offiziell vorgestellt.
Im Monat September keimte kurz Hoffnung auf: Da konnte man den Eindruck gewinnen, dass sich die EU und die Türkei wieder vorsichtig aneinander herantasteten. Doch nach den Ereignissen der vergangenen Tage ist diese "Periode der Milde" in den gegenseitigen Beziehungen schon wieder Vergangenheit.
Aus Sicht des ehemaligen EU-Botschafters in der Türkei, Marc Pierini, liegt das auch daran, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan Innenpolitik auf dem Rücken der Europäer betreibt: "Die Führung in der Türkei strebt eine Verfassungsänderung an, um eine Super-Exekutiv-Präsidentschaft durchzusetzen. Dafür braucht sie eine Mehrheit im Parlament. Um die zusammenzubekommen, sind die nationalistischen Stimmen nötig. Daher haben sie derzeit einen stark nationalistischen Erzählstrang in der Türkei. Der sich am Ende gegen die EU und gegen die USA richtet."
Wohin steuert Präsident Erdogan die Türkei? Die EU ist "besorgt".
Ruf nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
Wenn dieses für die Europäer äußerst widrige Klima anhält, drängt sich natürlich die Frage auf, welche Einflussmöglichkeiten die EU überhaupt noch hat, bei Präsident Erdogan Gehör zu finden. "In diesem so scharf nationalistischen Umfeld ist der Einfluss in der Tat sehr gering. Aber gleichzeitig zählen sehr viele Türken auf die Unterstützung der EU", sagt Ex-Botschafter Pierini, der heute für die Denkfabrik Carnegie Europe arbeitet. Die EU müsse also immer wieder und unbeirrbar Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei einfordern.
Genau das tat die Europäische Union jetzt in einer gemeinsamen Erklärung, ohne dabei irgendwelche Gesprächsbrücken einzureißen. Denn eines sei wichtig, betont die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini: "Wir brauchen den direkten Dialog mit den türkischen Behörden und allen Oppositionsparteien."
Dialog statt Drohungen, aber irgendwie auch Druck
Doch auch wenn man sich innerhalb der EU zunächst auf den Kurs "Dialog statt Drohungen" verständigt hat: Es gibt durchaus Stimmen, die fordern, der Druck müsse nun erhöht werden. Zum Beispiel, indem man die Beitrittsgespräche der EU zur Türkei mindestens ins Tiefkühlfach befördern, wenn nicht gar ganz stoppen sollte. "Die Beitrittsgespräche einzufrieren oder auch den Geldfluss zu unterbrechen, würde zumindest in Teilen den autokratischen Tendenzen der türkischen Führung in die Hände spielen. Und deren nationalistische Erzählung befeuern", sagt Pierini. Das allerletzte, was man von EU-Seite jetzt gebrauchen könne, sei das völlige Kappen aller Verbindungen.
Und die Fraktionschefin der Grünen im EU-Parlament, Rebecca Harms, bezeichnet die Zustände in der Türkei zwar als "schlimm", warnt aber gleichzeitig vor einem Abbruch der Beziehungen: "Das Land ist für unsere Sicherheit wichtig. Auch deshalb ist es ein NATO-Mitglied. Es ist für die gesamte Region sehr wichtig. Und die Beziehungen der EU zur Türkei sind auch für die Menschen wichtig, die heute in die Mühlen der Hexenjagd Erdogans nach dem gescheiterten Putsch geraten."
Eine rote Linie zog die EU jedoch bereits: Sollte in der Türkei die Todesstrafe wieder eingeführt werden, wäre es mit den Beitrittsgesprächen vorbei. In nächster Zeit wird sich also zeigen, ob Erdogan an der Beziehung zur EU noch irgendetwas liegt. Oder ob er innerlich längst Schluss gemacht hat mit Europa.