Europäisches Parlament Der 200-Millionen-Euro-Vorschlag
Seit Jahrzehnten pendelt das Europaparlament zwischen Brüssel und Straßburg. Die Doppelstruktur ist teuer und unbeliebt. Ein neuer Vorschlag will dem Wanderzirkus jetzt ein Ende bereiten.
Einmal im Monat packen Abgeordnete, Assistenten und weite Teile der EU-Kommission in Brüssel hunderte von grauen Kisten mit Aktenordnern zusammen. Am Wochenende tauchen dann in den Tiefgaragen der EU-Gebäude zahllose Lkw auf, verladen diese Kisten und bringen sie nach Straßburg, neben der belgischen Hauptstadt Sitz des Europaparlamentes.
Dieser von vielen Abgeordneten als "Wanderzirkus" kritisierte, rund 200 Millionen Euro teure Akt, gehört zu den für kaum jemanden nachvollziehbaren Eigenheiten der EU und zu einem Lieblingsargument ihrer Kritiker. Doch damit könnte es bald vorbei sein.
Kühner Vorschlag
Denn derzeit kreist ein Papier mit einem ziemlich kühnen Vorschlag durch die Gänge des Europarlamentes. Es liegt der ARD vor. Demnach soll das Europarlament künftig nur noch einen Sitz in Brüssel haben. Straßburg könnte als Ausgleich Standort der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) werden. Die befindet sich zur Zeit noch in London und muss im Zuge des Brexit sowieso umziehen.
Die Idee klingt brillant: Die Arzneimittelagentur EMA gehört zu den attraktivsten Institutionen der EU. Sie existiert seit 1995 und ist für einen großen Teil der Zulassungen von Arzneimitteln zuständig. Industrie und Ärzte sehen sie als ein Erfolgsmodell, heißt es in Expertenkreisen. Und: Sie finanziert sich auch noch aus Gebühren der Unternehmen anstatt aus Steuermitteln.
Statt Abgeordnete Fachleute nach Straßburg
Bei der EMA arbeiten hochqualifizierte Fachleute, insgesamt sind es fast 900 Mitarbeiter. Und sie zieht ein zahlungskräftiges Publikum an. Rund 36.000 Experten besuchen die EMA jährlich aus den unterschiedlichsten Gründen - ein schlagendes Argument für die Hotels in Straßburg, die in den Sitzungswochen des Parlamentes auch einfache Zimmer gern für durchaus 500 Euro vermietet. Den Rest des Monats stehen sie hingegen oft leer.
Doch die EMA würde auch aus anderen Gründen gut nach Straßburg passen. In und um die Stadt gibt es zahlreiche Universitäten und Unternehmen mit viel Fachkompetenz im medizinischen und pharmazeutischen Bereich. Und: Die EMA zieht Berater und Anwälte an. Kein Wunder, dass die Agentur begehrt ist: Fast dreißig Städte und Regionen in Europa haben Interesse angemeldet. Darunter Bonn, München, Hannover, Frankfurt, sowie Berlin und Mecklenburg-Vorpommern. Doch diesen Bewerbern gegenüber hat Straßburg einen Vorteil: Durch das EU-Parlament verfügt die Stadt bereits über ausreichend Infrastruktur für einen großen Verwaltungsapparat. So könnte die EU im Umzugsfall viel Geld sparen, das anderswo sinnvoller eingesetzt werden könnte.
Ohne Paris keine Entscheidung
Ob es jedoch tatsächlich zu einem Ende des Wanderzirkusses kommt, hängt vor allem von der französischen Regierung ab. Schließlich ist die Idee, Straßburg als Parlamentssitz aufzugeben, in der Vergangenheit in schöner Regelmäßigkeit an Paris gescheitert. Doch unter dem neuen Präsidenten Emmanuel Macron könnte ein Umdenken einsetzen. Im Wahlkampf gab er sich europafreundlich und vor allem innovativ.
Zudem gehört zu seinem Beraterkreis die Abgeordnete Sylvie Goulard, die auch für ein Ministeramt gehandelt wird. Sie soll gesagt haben, dass sie den Parlamentssitz in Straßburg weiter unterstützt, wenn es keine andere Lösung für die Stadt gebe. Durch den möglichen EMA-Umzug könnte die Stadt im Elsass jedoch kompensiert werden. Eigentlich ein vernünftiger Vorschlag.
Allerdings stand Vernunft in dieser Frage bislang noch nie an erster Stelle. Prestige hat für Frankreich immer eine wichtige Rolle gespielt - und deshalb war am zweiten Parlamentssitz in Straßburg bislang auch nicht zu rütteln. Die Mitglieder des Europäischen Parlaments sehen das hingegen anders. Bei verschiedenen Abstimmungen sprachen sich drei Viertel der Abgeordneten für einen einzigen Sitz des Europaparlamentes aus - und zwar in Brüssel. Hinzu kommt, dass die Doppelstruktur nicht nur bei den Mitgliedern unbeliebt ist. Hunderte Journalisten, Techniker und Übersetzer fahren monatlich nach Straßburg. Die Dienstreisen sind lang und teuer. Allein für die Fahrtzeit muss man vier bis fünf Stunden rechnen. So gehen jede Sitzungswoche ein bis zwei Arbeitstage allein für Reisen verloren.