Martin Schulz
Interview

70 Jahre EU-Parlament "Das Parlament muss ein Unruhefaktor sein"

Stand: 22.11.2022 06:49 Uhr

Das EU-Parlament hat über die Jahre an Einfluss gewonnen, und doch bleibt es hinter der Macht nationaler Abgeordnetenversammlungen zurück. Ex-Parlamentspräsident Schulz sagt im Interview, was dem Parlament noch fehlt.

tagesschau.de: Als Sie 1994 Abgeordneter im Europäischen Parlament wurden, war der Einfluss des Parlaments deutlich geringer als heute. Wie oft haben Sie sich damals gefragt: Was mache ich hier eigentlich?

Martin Schulz: Die Frage habe ich mir nie gestellt. Ich wollte unbedingt dahin, weil mir schon sehr früh klar war, dass mit dem Maastricht-Vertrag von 1992 die Rolle des Parlaments wachsen würde.

Martin Schulz
Zur Person

Martin Schulz gehörte dem Europaparlament von 1994 bis 2017 an. Von 2004 bis 2012 war er Vorsitzender der Sozialistischen Fraktion, von 2012 bis 2017 Parlamentspräsident. 2017 wechselte Schulz in die Bundespolitik, wurde SPD-Vorsitzender und Kanzlerkandidat. Nach der verlorenen Bundestagswahl wurde Schulz Abgeordneter und schied 2021 aus dem Bundestag aus. Ende 2020 wurde er zum Vorsitzenden der Friedrich-Ebert-Stiftung gewählt.

"Neue Epoche durch Haushaltsrecht"

tagesschau.de: Wie sehen Sie es heute - wie sehr ist der Einfluss gewachsen und was waren dabei die entscheidenden Reformen?

Schulz: In dem Maße, in dem die Europäische Union und vor ihr die Europäische Gemeinschaft und davor die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Rechte aus der nationalen Ebene auf die supranationale Ebene übertragen bekam, entstand die Notwendigkeit einer parlamentarischen Kontrolle der Exekutive. Das wurde zunächst nur sehr schleppend vorangetrieben. Aber mit der sogenannten Einheitlichen Akte in den 1980er-Jahren und mit dem Maastrichter Vertrag wurde die Kommission mit einem riesigen Haushalt ausgestattet - und das Parlament wurde der Haushaltsgesetzgeber. Mit dem Haushaltsrecht begann eine neue Epoche europäischer Politik.

Das sind für mich die Wegmarken bei der Stärkung des Parlaments. Und durch den Lissabon-Vertrag, der Mehrheitsentscheidungen auf mehr als 80 politischen Feldern einführte, ist das Parlament einer der mächtigsten Gesetzgeber in Europa.

"Regierung muss vom Parlament abhängig sein"

tagesschau.de: Und doch fehlt - im Vergleich zum Bundestag - einiges zur vollständigen Kontrolle der Exekutive durch die Volksvertretung. Was muss sich Ihrer Meinung nach ändern, damit sie diesem Anspruch gerecht wird?

Schulz: Die EU-Kommission muss nach meinem Dafürhalten eine europäische Regierung werden. Das ist sie eigentlich schon. Sie darf sich nur nicht so nennen, denn die exekutiven Befugnisse der Kommission haben ja Regierungscharakter.

Dann muss aber eine solche de-facto-Regierung auch zu 100 Prozent vom Willen des Parlaments abhängig sein. Dann wird der Kommissionspräsident oder die Kommissionspräsidentin vom Parlament eingesetzt und gegebenenfalls auch wieder abgesetzt, so wie wir das von den der nationalen Ebene her kennen. Das war auch das Ziel des sogenannten Spitzenkandidaten-Prozesses, an dem ich als EU-Parlamentspräsident maßgeblich gearbeitet habe. Besser wäre, es wäre in den Verträgen verankert.

"Parlament hat Machtkampf nicht gesucht"

tagesschau.de: Dieser Prozess endete 2019 darin, dass keiner der damaligen Spitzenkandidaten Kommissionspräsident wurde, sondern Ursula von der Leyen, die auf keinem Wahlzettel gestanden hatte. Was ist Ihre Konsequenz daraus? Wir gehen ja auf die nächste Wahl 2024 zu.

Schulz: 2019 hätte Manfred Weber oder Frans Timmermans Kommissionspräsident werden können - wenn das Parlament konsequent geblieben wäre. Ich habe zur Kenntnis genommen, dass das Parlament den Machtkampf mit dem Rat um diese Position nicht gesucht hat. Bekanntermaßen wollte der französische Präsident Emmanuel Macron damals Weber nicht. Da hätte das Parlament sagen müssen, dass es dann Timmermanns wird - einer von beiden oder niemand.

Ich fand es falsch, dass sich das Parlament am Ende auf den Deal der Regierungschefs, insbesondere von Merkel und Macron, eingelassen hat. Aber das heißt ja nicht, dass es beim nächsten Mal wieder so kommen wird. Mein Eindruck ist, dass Frau von der Leyen das Amt der Spitzenkandidatin der EVP sehr systematisch anstrebt.

tagesschau.de: Und da ist die Frage, ob die EVP das mitträgt.

Schulz: Das ist allerdings die Frage.

tagesschau.de: Wir sprechen hier also über das Selbstverständnis des Parlaments.

Schulz: In diesem Punkt eindeutig. 2014 habe ich mich noch in der Wahlnacht mit Jean-Claude Juncker getroffen, dessen Fraktion vorne lag. Ich habe gesagt, dann lass uns gucken, dass wir Dich zum Kommissionspräsidenten wählen und dann Vereinbarungen treffen, wie wir mit Parlament einerseits und Kommission andererseits im Bedarfsfall als Kontrahenten und im Bedarfsfall als Kooperationspartner agieren.

Denn neben der Kommission gab es damals noch 28 weitere Exekutiven - die nationalen Regierungen, die im Europäischen Rat als Machtblock zusammensitzen. Auch sie bedürfen des parlamentarischen Gegengewichts, und da muss das Parlament manchmal die Kommission als Verbündeten haben, um sich gegen die nationalen Partikularinteressen durchzusetzen.

Das haben wir 2014 ganz gut hinbekommen, 2019 hat es sich nicht wiederholt. Aber das heißt nicht, dass es 2024 nicht genauso wieder gehen kann.

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Die Macht der Kommission

tagesschau.de: Es gibt Kritiker in Brüssel, die sagen, die Kommission habe in der Corona-Krise und auch seit dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine noch einmal an Macht gewonnen und das Parlament in dem Maße an Macht verloren. Teilen Sie diese Einschätzung?

Schulz: Nicht ganz. Die Kommission hat nicht an Macht gewonnen, sondern es sind Umstände eingetreten, die gezeigt haben, welche Macht die Kommission tatsächlich schon hat. Die gemeinsame Impfstoff-Beschaffung ist ja nicht vom Himmel gefallen. Wenn eine gemeinsame europäische Aufgabe zu erledigen ist, ist das Aufgabe der Kommission. Daraus abgeleitet komme ich zurück zu meiner vorletzten Antwort: Es bedarf einer viel strikteren und intensiveren Anbindung dieser de-facto-Regierung an das Parlament.

tagesschau.de: Sie haben auf die vielen Politikfelder verwiesen, wo das Parlament inzwischen mit Mehrheit entscheidet. Haben Sie den Eindruck, dass das in Deutschland in der Bevölkerung entsprechend wahrgenommen wird?

Schulz: Immer dann, wenn das Parlament seine Macht zeigt, wird es auch wahrgenommen. Nehmen Sie das Beispiel Datenschutzgrundverordnung. Diese hat große Debatten ausgelöst, entschieden wurde es im Europaparlament. Über die Bankenunion - eine Konsequenz aus der Finanzkrise - entscheidet das Europaparlament. Über internationale Handelsabkommen wie zum Bespiel CETA entscheidet ebenfalls das Parlament. Das SWIFT-Abkommen, das internationale Geldströme regelt und über das im Rahmen der Russlandsanktionen viel diskutiert wurde, wurde im Europaparlament ratifiziert. Daran können Sie sehen, wie mächtig das Parlament ist.

"Zentrales Defizit: dass das Parlament kein Initiativrecht hat"

tagesschau.de: Aber es tritt nur punktuell als starker Gesetzgeber auf.

Schulz: Beim Bundestag ist jedem klar: Das Parlament ist der Hauptgesetzgeber im Lande. Dieses Bewusstsein gibt es in Bezug auf das Europaparlament nicht. Deshalb war mein Ziel sowohl als Fraktionsvorsitzender als auch später als Parlamentspräsident: Das Parlament muss im Brüsseler Gefüge der permanente Unruhefaktor sein. Kein Beamter der Kommission, kein Beamter oder keine Beamtin des Rates darf sich sicher sein, dass nicht irgendwo ein Abgeordneter auftaucht, der Fragen stellt, Vorschläge macht, Initiativen einbringt. Das ist übrigens eines der zentralen Defizite: dass das Parlament kein eigenes Initiativrecht hat.

tagesschau.de: Das heißt, dieser Unruhefaktor ist in dem Maße nicht gegeben?

Schulz: Ich gehe davon aus, dass die Kolleginnen und Kollegen, die jetzt im Parlament sitzen, ihre Kontrollfunktion sorgfältig wahrnehmen.

"Konsequente Bekämpfung von extremistischen Absichten"

tagesschau.de: Lassen Sie mich den Punkt Unruhe einmal anders wenden und auf die Spaltung Europas kommen, die man auch im Parlament sieht. Einer Ihrer häufig zitierten Sätze ist die Feststellung, das beste Mittel zur Abwehr der Dämonen des 20. Jahrhunderts wie Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sei das EU-Parlament. Ist das Parlament angesichts seiner Spaltung noch in der Lage, diesem Dämon Einhalt zu gebieten?

Schulz: Eindeutig, und das tut es auch. Die überwältigende Mehrheit der Mitglieder des Europäischen Parlaments sind glühende Verfechter der europäischen Zusammenarbeit. Dass es eine Reihe von Extremisten von rechts und links gibt, die euroskeptisch sind oder gar offen ultranationalistisch, ist nichts Neues.

Aber die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament haben sich geändert - EVP und die Sozialisten haben nicht mehr alleine eine Mehrheit. Aber wenn sie die EVP, die Sozialdemokraten, die Liberalen und die Grünen zusammennehmen, haben sie einen riesigen Block an proeuropäischen Kräften. Deshalb habe ich hier keine Sorgen, ganz im Gegenteil.

Nirgendwo wird im Alltag die zerstörerische Absicht der Extremisten, insbesondere von rechts, sichtbarer als im Europaparlament. Und nirgendwo wird sie im Alltag konsequenter bekämpft als im Europaparlament.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 22. November 2022 um 08:00 Uhr.