Landesweiter Protest Wie ein Geschäftsmann Georgien in die Krise treibt
Vor zwölf Jahren galt der Geschäftsmann Iwanischwili als Hoffnung Georgiens. Doch je mehr er sich an die Macht klammert, desto mehr bringt er Bevölkerung und Staatsbedienstete gegen sich auf.
Bis zum Donnerstag schien es, als ob die Partei "Georgischer Traum" mit dem umstrittenen Wahlsieg vom 26. Oktober noch einmal davongekommen sei und ungefährdet die nunmehr vierte Amtszeit in Folge antreten könnte.
Dass die Zentrale Wahlkommission der Partei des Geschäftsmannes Bidsina Iwanischwili eine absolute Mehrheit von 89 Sitzen im Parlament zugesprochen und die Opposition lediglich 61 erhalten hatte, sorgte für Unmut. Doch folgten den Aufrufen der Opposition gemeinsam mit Präsidentin Salome Surabischwili immer nur einige Tausend Menschen.
Als der "Georgische Traum" allein und damit verfassungswidrig das Parlament einberief und die neue Regierung einsetzte, kamen einige Hundert Menschen zum Platz vor dem Gebäude am Rustaweli-Boulevard. Es schien, als sei die Protestbewegung erschöpft.
Das Spiel ist aus
Doch dann ging die Führung um Iwanischwili noch einen Schritt - und damit den einen Schritt zu viel: Iwanischwili ließ Premierminister Irakli Kobachidse erklären, dass die Regierung die Verhandlungen mit der EU über einen Beitritt bis Ende 2028 aussetzen werde. Das wäre bis nach der nächsten Parlamentswahl in vier Jahren.
Zwar schob Kobachidse hinterher, dass Georgien 2030 trotzdem der EU beitreten werde. Doch offensichtlich nehmen ihm die Menschen das Spiel nicht mehr ab: Einerseits die EU-Mitgliedschaft als Ziel zu benennen - weil Umfragen seit Jahren Mehrheiten dafür ergeben - die nötigen Schritte aber nicht umzusetzen, vor allem jene, die eine faire Machtteilung im Land ermöglichen sollen.
Kaum verbreitete sich Kobachidses Worte am Donnerstag, strömten die Menschen auf die Straßen. Seitdem werden es jeden Abend mehr, die sich vor dem Parlament in Tiflis und im Land versammeln: in der zweitgrößten Stadt Batumi, in weiteren größeren und kleinen Städten.
Wut bricht sich Bahn
Am Samstagabend war es vor dem Parlament wieder so voll wie während der Demonstrationen gegen das Gesetz über "ausländische Einflussnahme" im Frühjahr. Die gestrigen Rücktrittsrufe erinnerten an die Massenproteste im Jahr 2012. Damals hatte sich so viel Unmut auf den damaligen Präsidenten Michail Saakaschwili und seine Partei aufgestaut, dass Milliardär Iwanischwili mit seinen Ressourcen eine Partei aufbauen und einen Machtwechsel herbeiführen konnte.
Seither konnte der "Georgische Traum" in Wahlen und Umfragen immer eine Mehrheit gegen die uneinige und teils diskreditierte Opposition behaupten. Dennoch verhielt sich die Regierungspartei immer autoritärer, als seien ihre Vorbilder Wladimir Putin und Ungarns Premier Viktor Orban.
Wer hält länger aus?
Wieder und wieder ließ die Regierung die Proteste mit Gewalt niederschlagen und gezielt Aktivisten, Politiker und Journalisten jagen. Die Demonstranten wappneten sich mit Skibrillen, Regenmänteln und Atemmasken gegen Tränengas und Wasserwerfer.
Inzwischen werfen sie Wasserflaschen und Feuerwerkskörper auf die Einsatzkräfte, die über Lautsprecher mit Beleidigungen provozieren. In der Nacht auf Sonntag zerstörten Demonstranten Scheiben und errichteten massive Barrikaden. In Wellen versuchte die Polizei, die Menschen vom Rustaweli-Boulevard zu vertreiben.
Am Sonntagmorgen zogen sich die Demonstranten zur Staatlichen Universität auf dem angrenzenden Tschawtschawadse-Boulevard zurück. Taxifahrer stellten ihre Autos quer, damit die Polizei nicht weiter vorrücken konnte. Anwohner bringen Essen und Getränke.
Welches Szenario?
Die Menschen stellen sich die bange Frage, wie sich die Lage entwickeln wird: Will die Regierung wie Alexander Lukaschenko 2021 in Belarus den Widerstand niederschlagen und die Opposition ins Gefängnis bringen? Werden die Proteste wochenlang andauern und das Land weiter destabilisieren wie beim "Maidan" 2013 in der Ukraine, so dass Russland schließlich eine Gelegenheit zum Eingreifen nutzen könnte?
Oder kann es der Bevölkerung gelingen, wie 2018 in Armenien einen friedlichen Machtwechsel herbeizuführen, als die Einsatzkräfte gegenüber der schieren Menge der Protestierenden keine Handhabe mehr hatte?
Ziviler Ungehorsam
Für Letzteres könnte sprechen, dass sich inzwischen Hunderte Staatsbedienstete von der Regierung distanzieren. Es begann mit einem Statement von Diplomaten und Rücktritten von Botschaftern, die sich auf Artikel 78 der Verfassung berufen, in dem die "euro-atlantische Integration" Georgiens festgeschrieben ist.
Angestellte des Verteidigungsministeriums stellten ebenso klar, dass sie verfassungstreu handeln werden. Es war ihrerseits auch ein Hinweis, dass sie nicht zum Einsatz gegen die eigene Bevölkerung bereit sind.
Hinzu kommen Richter, weitere Mitarbeiter im Öffentlichen Dienst, der Zentralbank sowie in Unternehmen, Universitäten und regierungsnahen Medien. Präsidentin Surabischwili sprach von einer "mächtigen Bewegung des zivilen Ungehorsams".
Präsidentin fordert Regierung heraus
Surabischwili versucht nun, den Widerstand zu koordinieren. Am Samstag erklärte die Parteilose, sie werde über das Ende ihrer Amtszeit am 14. Dezember hinaus im Amt bleiben, bis es ein legitimes Parlament gebe, das eine Regierung bestimmen und einen neuen Präsidenten wählen könne.
Immer wieder rufen Surabischwili und Oppositionelle nach Unterstützung aus der als sehr zurückhaltend wahrgenommenen EU und den USA, während die regierungsnahen Medien und russische Geheimdienstchefs behaupten, eben jener Westen organisiere einen "Maidan".
Nun setzte das US-Außenministerium die strategische Partnerschaft mit Georgien aus, die vor allem symbolischer Bedeutung war. Die neue EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas kündigte am Morgen "direkte Konsequenzen" an.
Iwanischwili gefährdet das Land
Während die Opposition für eine Mehrheit im Land bislang noch keine glaubwürdige Alternative war, ist nun offensichtlich, dass Iwanischwili das Land immer tiefer in die Krise treibt.
Iwanischwili sei von dem Glauben bestimmt, seine eigene Sicherheit nur retten zu können, wenn er unter allen Umständen an der Macht bleibe, beschreibt Giorgi Gacharia dessen Motivation. Er war einst Mitarbeiter und Minister unter Iwanischwili und führt jetzt eine Oppositionspartei. Als er in den 1990er-Jahren Geschäftsmann in Russland gewesen, habe Iwanischwili verstanden, wie gefährlich Wladimir Putin sei. Doch statt für Stabilität in seinem Land zu sorgen, macht der Milliardär es nun anfälliger für Einflussnahme Russlands.