Vertreter der polnischen Regierungsparteien unterzeichnen im Dezember 2020 ein neues Regierungsprogramm
Interview

Polen "Wir sehen die Agonie der Regierung"

Stand: 11.08.2021 14:19 Uhr

Regierungschef Morawiecki schmeißt Stellvertreter Gowin kurz vor einer heiklen Abstimmung raus: Was bedeutet der Bruch in Warschaus Regierungsbündnis? Der Polen-Experte Bachmann sieht die Regierung des Landes am Ende.

tagesschau.de: Was bedeutet der Rausschmiss von Jaroslaw Gowin aus der Regierung und den Bruch seiner Partei mit der PiS?

Klaus Bachmann: Es bedeutet, dass die Regierung - schon wieder - keine Parlamentsmehrheit mehr hat. Die PiS ist seit der letzten Parlamentswahl auf zwei kleinere Parteien angewiesen, jede von ihnen kann der Regierung die Mehrheit im Sejm wegnehmen. Allerdings hätte keine der beiden Parteien nach den aktuellen Umfragen eine Chance, wieder ins Parlament zurückzukehren. Sie bleiben auf die PiS angewiesen. Sie sind überhaupt nur im Parlament vertreten, weil die PiS bei der letzten Wahl eine bestimmte Anzahl ihrer Kandidaten auf ihre Liste aufgenommen und darauf verzichtet hatte, in den Wahlkreisen eigene Kandidaten aufzustellen. Die PiS hat damals nicht vorausgesehen, dass diese Parteien so viele Mandate bekommen würden - da hat sie sich damals schlicht verkalkuliert.

Klaus Bachmann
Zur Person

Klaus Bachmann ist Professor für Politische Wissenschaften an der Universität SWPS in Warschau.

Zwei Streitfragen

tagesschau.de: Warum kommt dieser Bruch zu diesem Zeitpunkt?

Bachmann: Die PiS hat mehrere kontroverse Projekte vorangetrieben und möchte sie jetzt auf einen Schlag durch das Parlament bringen. Das ist eine Steuerreform, die in Zusammenhang mit den EU-Geldern aus dem Corona-Hilfsfonds steht. Diese Gelder braucht die Regierung, um damit ihre Klientel zu bedienen und sich damit den nächsten Wahlsieg zu sichern. Diese Steuerreform will Gowins wirtschaftsliberale Partei nicht mittragen.

tagesschau.de: Und dann geht es ja auch um ein neues Rundfunkgesetz.

Bachmann: Das ist der zweite Konflikt. Um die kommenden Wahlen zu gewinnen, will die PiS die größte unabhängige TV-Station, die mehrheitlich von einem amerikanischen Konsortium betrieben wird, übernehmen oder ihr die Lizenz entziehen. Das Gesetz würde dazu führen, dass die Mehrheit an dem Sender verkauft werden muss und dann von den PiS nahestehenden Unternehmen übernommen werden kann.

Methode stößt an ihre Grenzen

tagesschau.de: Ist es angesichts der Abhängigkeit der kleineren Parteien von der PiS denkbar, dass einige Abgeordnete der kleineren Parteien zu ihr überlaufen werden?

Bachmann: Es ist auch nicht das erste Mal, dass die PiS die Mehrheit im Parlament verliert. Das war Ende Juni schon einmal so, als mehrere Abgeordnete die PiS verlassen haben, weil sie damit rechneten, dass es Neuwahlen gibt und sie dann ihr Mandat verlieren würden. Einer dieser Abgeordneten konnte zurückgekauft werden, so dass die Regierung noch eine Mehrheit von einer Stimme hatte. Jetzt sind 13 Abgeordnete weg, von denen einige zurückgeholt werden sollen. Aber auch dann müsste die PiS noch an andere Parlamentsfraktionen Zugeständnisse machen, die nicht der Regierung angehören - das ist alles sehr wackelig. Und in der PiS selbst ist die Unzufriedenheit an der Basis auch groß. Dort gibt es Unmut darüber, dass die PiS immer wieder Oppositionspolitiker mit lukrativen Angeboten wie Regierungsposten oder Jobs in Staatsunternehmen herüberlockt, das Fußvolk aber alles ehrenamtlich macht, ohne dafür in irgendeiner Weise belohnt zu werden. Daran sieht man: Irgendwann stößt das Einkaufen von Stimmen an seine Grenzen.

tagesschau.de: Das bedeutet auch, dass jede neue Mehrheit fragil bleibt?

Bachmann: Ja, denn jedes neue Gesetz geht nach der Abstimmung in das Oberhaus, den Senat, kommt dann noch einmal ins Parlament und muss dann vom Staatspräsidenten unterzeichnet werden – oder es geht dann ans Verfassungsgericht. Und gerade der Staatspräsident steht beim Rundfunkgesetz unter erheblichem Druck aus den USA, weil dort die geplante Enteignung amerikanischer Investoren ein großes Thema ist. Zumal es noch mehrere Konfliktthemen zwischen den USA und Polen gibt.

tagesschau.de: Ist denn nur das Verhältnis der PiS zu der Partei Gowins wackelig?

Bachmann: Nein, es gibt auch Konflikte mit dem zweiten Partner, der Partei "Solidarisches Polen" von Justizminister Zbigniew Ziobro, der die Justizreform verantwortet, von der sich die PiS unter dem Druck der EU jetzt Schritt für Schritt zurückzieht. Ziobro umwirbt mit Blick auf Neuwahlen das rechtsradikale Wählerpotential, das im Parlament auch von anderen Parteien oder Abgeordneten vertreten wird. Er braucht sie, sonst kommt er nicht mehr ins Parlament. Das führt dazu, dass der Justizminister vom Austritt Polens aus der EU spricht, während die PiS für die Wahl einen Haushalt und Gelder aus der EU braucht, die sie an ihre Klientel verteilen kann. Da ist der nächste Konflikt schon vorgegeben.

Strategie mit Schwachpunkten

tagesschau.de: Was Sie schildern, klingt nach einer ausgemachten Paralyse in der Innenpolitik.

Bachmann: Das ist auch so. Wir sehen die Agonie einer Regierung, und die Frage ist nur, wann der Patient tot ist. Die PiS kann aber nicht aus eigener Kraft Neuwahlen herbeiführen, weil sie für eine Selbstauflösung des Parlaments viele Stimmen aus der Opposition braucht. Es kann aber sein, dass die Opposition die Regierung erst einmal noch zappeln lässt. Das Kalkül könnte deshalb sein, dass die Regierung im Herbst nicht in der Lage sein wird, einen Staatshaushalt vorzulegen, obwohl das zu diesem Zeitpunkt von der Verfassung vorgeschrieben ist. Dann kann der Präsident das Parlament auflösen. Der Nachteil an dieser Strategie ist, dass die PiS, die sich gerne so mächtig gibt, dann recht schwach dasteht. Deshalb möchte die PiS die unabhängigen Medien ausschalten, weil sie dann ihren Kurs besser verkaufen kann.

tagesschau.de: Die Koalition ist zerrissen, aber an einer Neuwahl können viele Abgeordnete kein Interesse haben. Wie löst sich das auf?

Bachmann: Das lässt sich nicht auflösen, weil es auch eine sich selbst erfüllende Prophezeiung ist. Abgeordnete glauben, dass es zu Neuwahlen kommen wird, bei der sie ihren Posten verlieren werden, laufen zur Opposition über oder stimmen mit ihr ab und verstärken so den Glauben an baldige Neuwahlen. Die Regierung platzt, weil alle erwarten, dass sie zerplatzt. Deswegen wollte die PiS die EU-Gelder, um mehr Stimmen zu kaufen. Das sollte zu einer Steuerreform nach der Devise führen: Wer nicht PiS wählt, zahlt höhere Steuern, und wer PiS wählt, bekommt sie. Sie hat nicht bedacht, dass sie auch die Stimmen derjenigen braucht, die nach der Steuerreform höhere Abgaben zahlen müssen. Nach der Verfassung könnte PiS mit einer Minderheitsregierung noch jahrelang weiterregieren. Aber ihre eigenen Leute glauben, dass es bald Neuwahlen gibt. Das ist alles nicht rational, aber auch nicht neu. Solche Agonien von Regierungen, die sich selbst im Weg stehen gab es auch schon vorher.

Das Interview führte Eckart Aretz, tagesschau.de

Jan Pallokat, Jan Pallokat, ARD Warschau, 11.08.2021 15:44 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 11. August 2021 um 14:05 Uhr.