Estlands Regierungschefin Kallas Scharfe Kritikerin im Fokus des Kreml
Estlands Regierungschefin Kallas wird heute in Berlin erwartet. Mit demonstrativer Gelassenheit macht sie sich für Widerstand gegen den Kreml stark. Repressionen durch Russland kennt sie aus ihrer Familiengeschichte.
Wenn es um schnelle Hilfe für die Ukraine geht, prescht sie voran, drängt in der EU auf mehr Unterstützung für das Land. Das ist wohl auch ein Grund, weshalb der Name von Kaja Kallas Mitte Februar auf einer Fahndungsliste des russischen Innenministeriums auftauchte.
Dass Moskau die estnische Regierungschefin im Visier hat, überrascht die Politikwissenschaftlerin Kristi Rajk vom Estnischen Institut für Außenpolitik jedenfalls nicht. "Sie ist eine der sichtbarsten und aktivsten westlichen Regierungschefinnen seit Beginn der russischen Invasion", sagt Rajk. "Sie ruft zu einer gemeinsamen starken Reaktion auf, sowohl was Sanktionen gegen Russland angeht als auch die Unterstützung der Ukraine. Kallas will auch sicherstellen, dass Russland die Verantwortung für Kriegsverbrechen trägt."
Großvater und Vater waren Politiker
Die Fahndungsliste scheint die estnische Regierungschefin aber wenig zu beeindrucken. Sie wolle sich von Putin nicht einschüchtern lassen, sagte Kallas im Februar in den tagesthemen. "Er will, dass wir Angst haben, aber damit würden wir ihm geben, was er will. Deshalb sollten wir keine Angst haben."
Kallas stammt aus einer einflussreichen estnischen Familie. Vater und Großvater haben das Land als Politiker maßgeblich mitgestaltet. Auch deshalb wählt sie zunächst einen anderen Weg und macht Karriere als Rechtsanwältin. In der wirtschaftsliberalen Reformpartei geht es dann schnell voran als Europaabgeordnete - und dann als erste Frau an der Spitze ihrer Partei.
Familiengeschichte als Ansporn
Seit 2021 ist Kallas Ministerpräsidentin in dem Land, das eine direkte Grenze zu Russland hat und in dem eine große russischstämmige Minderheit lebt. "Als Russland Estland besetzte, deportierten sie Esten nach Sibirien und brachten Russen in das Land. Meine eigene Familie wurde auch nach Sibirien deportiert", hat sie einmal erzählt. "Zum Ende der Besatzung belief sich die russische Minderheit auf 30 Prozent."
Die persönliche Familiengeschichte ist auch ihr Ansporn: Sie stehe stellvertretend für das, was viele Estinnen und Esten erlebt haben, sagt Kallas. Der russische Angriff auf die Ukraine hat das Sicherheitsgefühl vieler Balten verändert und alte Wunden aufgerissen. Mit ihrer klaren Kante macht Kallas ihren Landsleuten Mut.
Trotz Fahndungsliste will sie auch weiterhin kein Blatt vor den Mund nehmen. "Putin nutzt das eindeutig als Waffe, um Angst zu verbreiten und um zu zeigen, dass wir kein echtes Land sind. Er beschuldigt mich für Dinge, die eigentlich interne russische Angelegenheiten sind. Wir sind aber ein eigenständiges Land. Daran sieht man, dass er imperialistische Träume und Gedanken hat. Aber ja, als das bekannt wurde, sagten mir viele, dass das eine Ehrenmedaille sei. Ich muss wohl irgendwas richtig gemacht haben, wenn die Russen so sauer auf mich sind."
Risiko durch Fahndungsliste gering
Angst habe sie nicht, sagt Kallas. Und dazu besteht auch kein Grund, meint Politikwissenschaftlerin Rayk. Denn es sei unwahrscheinlich, dass die Fahndungsliste Konsequenzen haben werde - Kallas und andere Personen auf der Liste würden ohnehin nicht nach Russland reisen. Sie würden auch nicht in Länder reisen, die eng mit Russland alliiert sind. Ein Risiko, festgenommen zu werden, besteht vielleicht in Ländern wie Belarus, Iran oder Nordkorea.
Der Schritt Russlands war deshalb eher symbolischer Natur. Doch Kallas wird als scharfe Kritikerin im Fokus Moskaus bleiben.