Prigoschin spricht in Bachmut in einer Aufnahme für den Telegram-Kanal seines Unternehmens Concord
analyse

Jewgeni Prigoschin Tod in Twer?

Stand: 23.08.2023 21:56 Uhr

Prigoschins Karriere steht für viele Veränderungen, die Russland unter Putin vollzogen hat. Reich durch die Nähe zur Macht, dann ein wichtiges Werkzeug beim Zurückdrängen des Westens - und am Ende kaum noch kontrollierbar.

Von Eckart Aretz, tagesschau.de

Dass Jewgeni Prigoschin keines natürlichen Todes sterben würde, hatten ihm nach der Revolte seiner Wagner-Truppe gegen die russische Armeeführung viele Russland-Experten vorhergesagt. Hinter der Annahme stand die Beobachtung, dass im System Putin immer wieder Angehörige der Elite im weitesten Sinne unter dubiosen Umständen gestorben waren, viele davon durch einen Sturz aus dem Fenster.

Mehr noch aber beruhte die Annahme auf der Einschätzung, dass Russlands Präsident Wladimir Putin denjenigen nicht verzeiht, die er für Verräter hält. Und mit diesem Etikett hatte er Prigoschin belegt, nachdem die Wagner-Söldner im Juni den Marsch auf Moskau angetreten hatten.

Mit Putin nach oben und nach Moskau

Prigoschins Revolte läutete das letzte Kapitel in einer Beziehung ein, die für viele Beobachter symbolisch für die Entwicklung stand, die Russland unter Putin genommen hat. Prigoschin, zu Zeiten der Sowjetunion ein Krimineller mit einem längeren Strafregister, soll Putin schon in den 1990er-Jahren in St. Petersburg begegnet sein, wie so viele, die später führende, lukrative Positionen im Staat einnehmen konnten.

In den wilden Jahren des russischen Kapitalismus kam auch Prigoschin zu Reichtum und Einfluss. Zunächst in der Gastronomiebranche in der Stadt an der Newa, dann, weil Putin angeblich zu seiner Zufriedenheit in seinem Restaurant gespeist haben soll, auch in Moskau.

Sein Catering-Unternehmen richtete Staatsbankette aus, belieferte Kindergärten, Schulen und die Armee - der Spitzname "Putins Koch" war irgendwann in der Welt und hielt sich auch dann noch, als Prigoschin schon auf anderen, politischeren Feldern tätig war.

Neue Geschäftsfelder

In den Jahren, als Putins Russland sich immer stärker vom Westen abwandte und der Präsident an der Restaurierung der Herrschaftsverhältnisse und des Machtbereichs der Sowjetunion arbeitete, entstanden neue Geschäftsfelder für Prigoschin. Er richtete in St. Petersburg Troll-Fabriken ein, die über das Internet in zahlreichen Ländern Wahlen beeinflussen sollten.

Ein Unternehmen für internationale Destabilisierung und verdeckte Militäreinsätze - für den Kreml war das eine vorteilhafte Konstruktion, weil er stets jede Verantwortung und Beteiligung an den Handlungen von Prigoschin ablehnen konnte.

Dabei stand der Militärgeheimdienst GRU Pate, als Prigoschin ab etwa 2012 an der Gründung der Söldner-Gruppe Wagner beteiligt war. Sie spielte eine wichtige Rolle bei der Destabilisierung des Ostens der Ukraine und der Abspaltung des Donbass. Besser bezahlt und ausgerüstet als die russische Armee, entschlossener und brutaler, kam die Wagner-Truppe auch ab 2015 in Syrien zum Einsatz.

Aus Prigoschins Söldnern wurde nun eine international und vor allem in Afrika agierende Schattenarmee, die ihre Einsätze - und schwerste Kriegsverbrechen - in Libyen, dem Sudan, der Zentralafrikanischen Republik, Mali und Burkina Faso stets auch mit lukrativen Geschäften verband. Überall dort, wo sie schwankende Regime gegen die Kritik des Westens stützte, sicherte sie sich möglichst den Zugriff auf örtliche Rohstoffe.

Konkurrenten im System

Dass in diesen Erfolgen auch der Keim des Scheiterns von Wagner und Prigoschin lag, ist eine weitere, fast schon bizarre Facette. Prigoschin wurde mächtig und geriet darüber fast zwangsläufig in Konkurrenz zu anderen Sicherheitsdiensten. Im Krieg Russlands gegen die Ukraine rekrutierte Prigoschin zehntausende Schwerkriminelle in Strafgefangenenlagern und schickte sie in den "Fleischwolf" an die vorderste Front.

Dass die Wagner-Truppe dabei tatsächlich die militärischen Erfolge erzielte, die sie zum Beispiel im Kampf um Bachmut reklamierte, darf bezweifelt werden. Prigoschin, ein lautlärmender Verkäufer seiner selbst, aber fühlte sich offenbar mächtig genug, sich über seinen Telegram-Kanal öffentlich mit der obersten Militärführung des Landes anzulegen - mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu und dem Generalstabschef Waleri Gerassimow. Es begann mit Kritik an der Ausrüstung der Soldaten, am Nachschub an Munition, setzte sich über die Kritik an der Armeeführung selbst fort und endete im Juni mit dem Versuch, beide bei einem Besuch der frontnahen russischen Stadt Rostow festzusetzen.

Hilfloser Präsident

Selten in seiner Amtszeit stand Putin offenkundig hilfloser vor der Entwicklung in seinem Land als an jenem letzten Juniwochenende. Die bis dahin sorgsam austarierte Balance zwischen den konkurrierenden Sicherheitsdiensten und wirtschaftlichen Interessengruppen - mit einem Schlag dahin. Stattdessen Bilder des Jubels, als die Wagner-Leute Rostow unter ihre Kontrolle nahmen und dann ohne größeren Widerstand - aber auch ohne nennenswerte Unterstützung - in Richtung Moskau marschierten.

Und doch war der Glaube, er könne es sich leisten, Putins engen Vertrauten Schoigu anzugreifen, eine fatale Fehlkalkulation Prigoschins, der Entschluss, seine Söldner auf die Autobahn M4 zu schicken, vielleicht schon ein Akt der Hilfslosigkeit. Die Revolte wurde abgeblasen, Prigoschin und die Wagner-Söldner zogen nach Belarus, und viele Beobachter sagten dem einst sehr nützlichen Koch das baldige Ende voraus.

Umso verwirrender war, dass Prigoschin in den Wochen danach scheinbar munter umher reisen konnte, in Russland und vor wenigen Tagen wieder im Drillich erschien, nach eigener Aussage in Afrika. Ob der Absturz der Embraer-Maschine im Oblast Twer nun die Erfüllung der Prognosen ist oder nicht, mag dahingestellt bleiben - ohnehin ist der Tod Prigoschins noch nicht bestätigt. Die bloße Vermutung wird fürs Erste Putin nutzen, weil diese Art von Tod in das Racheschema passt, das der russische Präsident pflegt.

Das Problem mit den Ultranationalisten

Die Prigoschin-Saga verdeutlicht aber auch in ihrem möglicherweise letzten Akt eines der Kernprobleme des Systems Putin. Wirkliche Gefahr droht ihm vor allem aus dem Lager der Ultranationalisten, wie Prigoschin selber einer war.

Die demokratische Opposition ist längst zerschlagen, ihre führenden Vertreter sind ermordet, vertrieben oder inhaftiert. Putin aber hat die Schleusen für den extremen Nationalismus in Russland geöffnet. Auch das spülte Personen wie Prigoschin nach oben. Dass sie sich verselbständigen können, ist eine Lektion, mit der Putin weiterhin wird umgehen müssen.

Christina Nagel, ARD Moskau, tagesschau, 23.08.2023 23:02 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 23. August 2023 um 22:15 Uhr.