Prozess gegen Theatermacherinnen Einst umjubelt, jetzt vor Gericht
Im Jahr 2022 bekam "Finist, der lichte Falke" Russlands wichtigsten Theaterpreis und war umjubelt. Im Jahr 2024 stehen die Frauen, von denen das Stück stammt, vor Gericht. Ein Fall, der viel über das heutige Russland erzählt.
Es ist stickig auf dem Flur des Moskauer Militärgerichts. Ein paar Dutzend Leute stehen dicht gedrängt, hoffen auf einen Platz im Verhandlungssaal oder zumindest auf einen kurzen Blickkontakt mit Jewgenija Berkowitsch und Swetlana Petrijtschuk.
Bevor die beiden Frauen von bewaffneten maskierten Männern über den Korridor in den Saal geführt werden, herrscht ein Gerichtsdiener die Wartenden an: "Kein Wort! Wer hier auch nur winkt oder ein Handzeichen macht, fliegt sofort raus." Es ist totenstill, als die Angeklagten in den Saal geführt werden.
Auf der Liste der "Extremisten"
Beide sind seit einem Jahr in Untersuchungshaft, seit April stehen ihre Namen auch auf der Liste der "Extremisten und Terroristen". Man wirft ihnen vor, mit ihrem Theaterstück "Finist, der lichte Falke" islamischen Extremismus und Terrorismus zu propagieren. Doch es geht bei diesem Prozess wohl um viel mehr als um ein Theaterstück.
Das Stück, geschrieben von Petrijtschuk und inszeniert von Berkowitsch, handelt von Frauen aus Russland, die sich online in IS-Kämpfer verlieben, sich für den "Islamischen Staat" rekrutieren lassen und die dann nach Syrien fliegen. Es basiert auf realen Fällen und Gerichtsprotokollen. Und es bekam noch vor zwei Jahren die "Goldene Maske", Russlands wichtigsten Theaterpreis.
Sprachlich alles verstanden - "inhaltlich jedoch nichts"
Nun sitzen Berkowitsch und Petrijtschuk im Glaskäfig vor Gericht, wo Staatsanwältin Jekaterina Denisowa den beiden gerade darlegt, sie verträten und propagierten eine besonders aggressive Form des radikalen Islamismus‘. In verbrecherischer Absicht hätten sie sich verschworen, das Stück auf möglichst vielen Bühnen zu spielen und stellten somit eine Gefahr für die Gesellschaft dar. Der Vorwurf ist so absurd, dass ein Raunen durch den Saal geht. Ein maskierter Saalwächter lässt eine Frau aus dem Saal entfernen.
Als Richter Jurij Massin die beiden Angeklagten fragt, ob sie die Anschuldigungen verstünden, steht Berkowitsch auf hinter dem Panzerglas. Sie ist höchstens 1,60 Meter groß, sorgfältig geschminkt, mit Lockenkopf und dunklem Anzug. "Euer Ehren", sagt sie, rein sprachlich habe sie alles verstanden, "inhaltlich jedoch nichts".
Feministin und Gegnerin des Krieges
Sie sei weder Muslima noch radikal. Sie esse Schweinefleisch, fotografiere sich am Strand und sei mit einem nicht religiösen Russen verheiratet. Sie verstehe ihr Stück als Warnung vor Terrorismus, deshalb habe sie es aufgeführt, deshalb sei es prämiert worden.
Dann nimmt auch Petrijtschuk Stellung zu den Vorwürfen, und manche im Saal können nur mit Mühe ein Kichern unterdrücken: "Hm", sagt sie. "Radikale Islamisten würden doch wohl kaum ein Theaterstück für ihre Propaganda nutzen. Lehnen die diese Kunstform nicht als Teufelszeugs ab?"
Längst scheint klar, dass das beanstandete Theaterstück nur Mittel zum Zweck ist - und es in Wahrheit um die beiden Frauen geht. Vor allem um Jewgenija Berkowitsch, eine bekannte Regisseurin, erklärte Feministin und Gegnerin des Kriegs gegen die Ukraine.
Kaum einer traut sich, in Ungnade Gefallene zu engagieren
Hinter vorgehaltener Hand spricht man - wie damals zu Stalinzeit - vom "Theaterprozess". Die Kulturszene, so scheint es, soll "gesäubert" werden, kriegskritische Haltungen auch aus Theatern und Konzertsälen verschwinden.
Viele Popstars, Ballerinen, Regisseure und Schauspielerinnen haben das Land bereits aus Protest verlassen. Manche gehen auch, weil sie hier ohnehin nicht mehr auftreten können. Kaum ein Bühnenbetreiber traut sich noch, in Ungnade gefallene Künstler zu engagieren.
Die Schauspielerinnen machen weiter - auch ohne ihre Regisseurin.
"Verstehen, dass es das andere Russland noch gibt"
Jewgenia Berkowitsch‘ Ensemble, eine nur aus Schauspielerinnen bestehende Truppe namens "Sosos Töchter", spielt ohne sie weiter. Die Vorstellungen sind auf Wochen ausverkauft.
Vergangene Woche spielten die Frauen auf einer kleinen Moskauer Bühne das von Jewgenija inszenierte Stück "Reishund", geschrieben vom im Exil lebenden Schriftsteller Aleksandr Swarowskij. Ein auf den ersten Blick unpolitisches Stück, witzig, aber auch düster und mit vielen Anspielungen auf die Absurditäten des heutigen Russland.
Den Frauen droht jahrelange Haft
"Du schaust deinen Sitznachbarn an und siehst, dass auch ihm das Lachen im Hals stecken bleibt - und du weißt, dass du nicht allein bist", sagt nach der Vorstellung eine Zuschauerin. "Theater hilft zu verstehen, dass es das andere Russland noch gibt."
Manche Bühnen spielen die Stücke verfemter Regisseure oder Dramaturgen weiterhin, lassen im Programmheft aber die Namen weg. "Sosos Töchter" stehen zu Jewgenija und Swetlana. Am Ende jeder Vorstellung bitten Sie das Publikum, Briefe in die U-Haft zu schreiben. Gut möglich, dass die beiden diese Unterstützung brauchen: Jewgenija Berkowitsch und Swetlana Petrijtschuk droht jahrelange Haft.