Europa-Skepsis in der Türkei "Steckt euch die EU doch an den Hut!"
Die EU-Kommission hat in ihrem jährlichen Bericht über die Beitrittskandidaten unter anderem die Türkei zu mehr Reformeifer ermahnt. Die Regierung in Ankara reagierte positiv: Sie sei ernsthaft bemüht, die Probleme zu lösen. Viele Türken legen dagegen gar keinen Wert mehr auf einen EU-Vollbeitritt.
Von Ulrich Pick, ARD-Hörfunkstudio Istanbul
Vier Jahre nach dem Beginn der Beitrittsverhandlungen hat sich die Europa-Euphorie am Bosporus deutlich gelegt. Zwar dürften die meisten Türken nach wie vor eine Mitgliedschaft in der EU für erstrebenswert halten, doch hat sich eine gewisse Verdrossenheit breit gemacht, auch als Reaktion auf die mangelnde Unterstützung durch andere europäische Länder.
Frankreich ist dagegen, ebenso Österreich. Und Deutschland wird unter der neuen schwarz-gelben Bundesregierung ebenfalls eine deutlich ablehnende Position einnehmen - unter Kanzler Gerhard Schröder hatte man den Türken noch sichtbar den Rücken gestärkt.
"Die Hoffnungen sind gebrochen"
So ist die mögliche Aufnahme der Türkei in die EU in immer weitere Ferne gerückt, wie diese Türkin meint: "Lange haben die Medien es so dargestellt, als stünden wir jetzt kurz davor. Die Menschen sind verdrossen und es sieht auch so aus, als ob wir nicht reinkommen. Die Hoffnungen sind gebrochen."
Hauptgrund der wachsenden Enttäuschung ist, dass sich die meisten Türken immer wieder von der Europäischen Union hingehalten fühlen. Brüssel, so heißt es, messe mit zweierlei Maß und stelle Ankara immer wieder neue Hürden in den Weg. So seien zwar Bulgarien und Rumänien, in denen nach wie vor eine große Korruption blühe, bereits Mitglieder der EU, an der Türkei aber, der in internationalen Erhebungen eine rückläufige Korruption attestiert worden sei, habe man immer wieder etwas herumzunörgeln.
"Steckt euch die EU doch an den Hut"
Kein Wunder, dass die Enttäuschung am Bosporus streckenweise gar in Wut umschlägt: "Ständig dieses Hin und Her: Wir kommen rein, wir kommen nicht rein. Steckt euch die EU doch an den Hut, denkt man da", sagt ein aufgebrachter Türke. Ein anderer findet, dass man auf die EU ohnehin verzichten kann: "Was kann die Europäische Union der Türkei denn geben? Gar nichts!".
Die wachsende Ablehnung der Europäer bezüglich eines türkischen EU-Beitritts hat am Bosporus mittlerweile zu neuen Überlegungen geführt. So sagte Präsident Abdullah Gül vergangene Woche, sein Land könne angesichts dieser Lage möglicherweise auch den Weg der Norweger einschlagen. Die Skandinavier hatten nämlich auf eine Mitgliedschaft in der EU verzichtet. Allerdings nach erfolgreichen Beitrittsverhandlungen. Und die erhofft sich das türkische Staatsoberhaupt auch für sein Land.