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Friedensnobelpreisträger Kailash Satyarthi "Ich bin keine politische Figur"

Stand: 10.12.2014 09:48 Uhr

Zusammen mit Malala Yousafzai wird Kailash Satyarthi heute den Friedensnobelpreis entgegennehmen. Im ARD-Interview spricht der Inder über den Medienrummel, sein Verhältnis zu Malala und über den Kampf gegen die Kinderarbeit.

ARD-Hörfunkstudio Neu-Delhi: Können Sie sich an den Augenblick erinnern, als Sie die Nobelpreis-Nachricht erreicht hat?

Kailash Satyarthi: Ich habe damit überhaupt nicht gerechnet. Für mich war der 10. Oktober zunächst mal ein ganz normaler Tag. Ich war dabei, mich auf eine Reise nach Deutschland vorzubereiten und suchte im Internet nach billigen Flugtickets. Und dann rief plötzlich ein Journalist an und sagte: "Kailash, mein Lieber, herzlichen Glückwunsch zum Nobelpreis!" Der Journalist war sehr aufgeregt und rang nach den richtigen Worten.

Ich fand das komisch und begann, den Suchbegriff "Friedensnobelpreis 2014" zu googlen. Aber noch bevor ich die Suche starten konnte, stürmten meine Mitarbeiter in mein Büro und jubelten und tanzten. Einige weinten vor Freude und umarmten sich. Und dann wurde auch mir langsam klar, was da passiert sein musste. Die waren ja alle verrückt vor Freude. Plötzlich fing auch ich an zu lächeln und dachte mir im Stillen – "Gott sei Dank für diesen Preis". Aber ich fühlte auch sofort, dass dieser Preis eine noch größere moralische Verantwortung bedeutet.

ARD: Was bedeutet Ihnen der Preis?

Kailash: Dieser Friedensnobelpreis ist die größte Anerkennung, die Milliarden sozial benachteiligter Kinder jemals bekommen haben. Es ist ein Preis für die unsichtbaren Kinder, deren Stimmen ungehört bleiben. Ich lächelte über die Ehrung, aber das waren meine ersten Gedanken, während alle um mich herumtanzten. Dann kamen als nächstes die Journalisten. Es waren erst Dutzende, dann um die 100, es wurden immer mehr. Sie begannen zu streiten, und das Lustigste war, dass sie nicht wussten, wer von uns Kailash Satyarthi war. Sie flüsterten sich gegenseitig zu: "Wo ist der Typ?" Woher sollten sie das auch wissen, ich war ja bisher nicht so oft in den Medien. In einigen Zeitungen stand dann auch am nächsten Tag, dass es schwierig war, mich zu finden.

"Kreislauf aus Armut und Kinderarbeit durchbrechen"

ARD: Sie kämpfen gegen Kinderarbeit. Wie groß ist das Problem in Indien? Und woran liegt das?

Kailash:  Ich habe in Indien angefangen, aber mein Kampf gegen Kinderarbeit ist ein globaler Kampf. Ich arbeite mit meiner Organisation "Bachpan Bachao Andolan" in über 140 Ländern. Das Ausmaß der Kinderarbeit in Indien ist riesig. Sie finden hier die schlimmsten Formen der Kinderarbeit – darunter den Handel mit Kindern, Kinderprostitution, Zwangsheiraten, Versklavung und Zwangsbettelei durch organisierte Mafia-Banden. Das alles gibt es in Indien. Aber ich glaube fest daran, dass Indien nicht nur das Land von Problemen ist. Indien ist vor allem die Mutter von einer Milliarde Lösungen. Das Problem ist, dass wir die Probleme alle sehen können, während die Lösungen versteckt sind.

ARD: 100 Probleme und eine Milliarde Lösungen – aber die Armut ist erdrückend groß. Indien ist eine sozial sehr ungerechte Gesellschaft. Wo beginnen, wo aufhören?

Kailash: Die Armut ist sehr sichtbar, richtig. Doch wie vielschichtig das Problem ist, ist versteckt. Die Verweigerung der Menschenrechte, die Verweigerung der Freiheit, die Verweigerung der Kindheit, die Verweigerung von Träumen ist ein Fluch. Das ist eine unentschuldbare Sünde, die nicht toleriert werden darf, auch nicht unter dem Deckmantel der Armut.

Kinderarbeit verursacht und verlängert Armut. Armut verursacht Kinderarbeit. Weltweit arbeiten rund 168 Millionen Kinder in Vollzeit-Jobs, während rund 200 Millionen Erwachsene arbeitslos sind. Es sind in den meisten Fällen die Eltern der Kinderarbeiter. Wir müssen es schaffen, den Kreislauf aus Armut und Kinderarbeit zu durchbrechen, in dem wir die Kinderarbeit ausmerzen.

Wir müssen sicherstellen, dass alle Kinder die Chance auf eine gute und kostenlose schulische Ausbildung haben. Auch das ist ohne die Ausmerzung der Kinderarbeit nicht möglich. Wir müssen viel mehr Geld in die Bildung investieren. Dafür braucht es politischen Willen und soziales Verantwortungsbewusstsein. Dieses Verantwortungsbewusstsein entsteht durch Mitgefühl.         

"Verstehe nichts von diplomatischen und politischen Zwängen"

ARD: Sie teilen sich den Preis mit Malala aus Pakistan. Das Nobelpreiskomitee hat das als Symbol des Friedens gewertet. Malala hat daraufhin schnell gesagt, dass beide Premierminister zur Preisverleihung nach Oslo kommen sollten. Sie haben darauf sehr zurückhaltend reagiert. Warum?

Kailash: Ich habe Malala persönlich geantwortet. Auch wenn man mich jetzt besser kennt und ich mehr Anerkennung und Respekt erfahre, habe ich mich als Mensch nicht verändert. Ich bin immer noch derselbe. Ich bin ein einfacher Mann, ich bin keine politische Figur. Ich verstehe nichts von diplomatischen und politischen Zwängen, das ist nicht meine Welt. Ich wollte zu keinem Zeitpunkt in meinem Leben in die Politik gehen. Ich will auch gar nichts über solche Zwänge lernen.

Ich bete und arbeite auf meine Weise dafür, dass sich die Politiker weltweit für den Frieden einsetzen. Ich bete und hoffe auch, dass sich auch alle Religionsführer für den Frieden einsetzen, anstatt sich in engen Schubladen zu verstecken. Jede Schublade will die stärkste und beste und glücklichste sein. Wir haben unsere Welt in Schubladen zerstückelt.  

Wir lehren unsere Kinder, dass sie Hindus oder Muslime oder Christen sind. Aber unsere Kinder kommen als Menschen zur Welt, und nicht als Pakistaner oder Inder. Oder als Brahmanen oder Dalits. Wir haben über die Jahre so viele tausend Schubladen für uns Menschen geschaffen - und wir quetschen unsere Kinder in die immer gleichen Schubladen, weil unser Geist und unsere Seele sich in diesen Schubladen wohl fühlen.

Es kann ein Risiko sein, die sichere Schublade zu verlassen. Es kann sogar gefährlich sein, aber einer muss damit anfangen und vorangehen. Frieden ist das fundamentale Menschenrecht eines jeden Kindes. Wir können nicht warten. Wir müssen es jetzt anpacken. Malala und ich müssen jetzt arbeiten. 

Das Interview führten Sandra Petersmann und Jürgen Webermann, ARD-Hörfunkstudio Neu-Delhi

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 10. Dezember 2014 um 15:00 Uhr.