Ein Schild, auf dem "Exit" steht neben einer britischen Flagge.
Interview

Brexit-Umsetzung Hoffen auf ein "Skelett-Abkommen"

Stand: 07.09.2020 04:11 Uhr

Ende des Jahres verlässt Großbritannien endgültig die EU. Die Abgeordnete Hobhouse glaubt noch an einen Austrittsvertrag. Sie erklärt, warum scheinbare Kleinigkeiten bei den Verhandlungen so großes Gewicht haben.

tagesschau.de: Frau Hobhouse, sie sind gerade in Quarantäne. Wie geht es Ihnen?

Hobhouse: Ich bin nicht krank. Ich habe es riskiert und bin nach Frankreich gereist, um meine Familie zu sehen. Diese Quarantäne ist ein sehr stumpfes Instrument. Nach der Einreise mussten wir ein Formular ausfüllen und sagen, dass wir in Quarantäne gehen. Aber keiner überprüft das hier, auch die Polizei nicht.

tagesschau.de: Brüssel und London verhandeln in Etappen schon seit Monaten darüber, wie die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien aussehen sollen. Fortschritte gibt es kaum. Bereitet das den Menschen Sorgen?   

Hobhouse: Es gibt natürlich Menschen und Politiker, die sich große Sorgen machen. Aber die ganze Diskussion ist jetzt einfach abgeschnitten. Sie findet nicht mehr statt. Die Regierung wird alles, was wirtschaftlich jetzt den Bach runtergeht, auf die Pandemie schieben. Der Brexit wird hin und wieder mal angesprochen, aber auch die Medien nehmen das Thema gar nicht mehr auf. Boris Johnson kann also dazu alles Mögliche sagen. In Deutschland muss man sich mal klarmachen, dass Johnson so etwas wie Donald Trump ist. Auch er gesteht keine Fehler ein, sondern schiebt alles, was schief geht, anderen in die Schuhe. Er kreiert Feindbilder. Die EU ist ein Feindbild. Dass die Verhandlungen nicht vorankommen, liegt seiner Meinung nach an der EU.

Zur Person

Die in Hannover geborene Wera Hobhouse ist britische Staatsbürgerin und seit 2017 Mitglied des britischen Unterhauses. Als Abgeordnete der Liberaldemokraten hat sie sich jahrelang gegen den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union engagiert.

"Hoher Symbolwert" der Fischerei

tagesschau.de: Der Handel zwischen der EU und Großbritannien beträgt mehr als 450 Milliarden Euro. Ein Zankapfel bei den Verhandlungen sind die Fangquoten in britischen Gewässern. Die Fischindustrie in Großbritannien trägt magere 0,1 Prozent zum britischen Bruttoinlandsprodukt bei. Gewichtet London hier falsch?

Hobhouse: Die Fischerei hat einen hohen symbolischen Wert. Es geht nicht um Prozente. Ob das jetzt ein, fünf oder 20 Prozent sind, ist nicht wichtig. Wenn sich London hier nicht durchsetzen kann, fühlen sich viele Briten wieder als Opfer der EU. Und das würde die Regierung zu ihrem Vorteil ausschlachten. Abgesehen davon sind die Fangquoten der letzten Jahrzehnte für Großbritannien unvorteilhaft. An den Fangquoten misst die britische Regierung, ob sie bei den Verhandlungen erfolgreich war oder nicht.

tagesschau.de: London fordert weiterhin freien Zugang zum EU-Binnenmarkt. Brüssel sagt dazu ja, aber verlangt, dass weiterhin EU-Standards in Sachen Umwelt, Verbraucher und Produkte eingehalten werden. Warum lässt sich London darauf nicht ein?

Hobhouse: Das berührt einen der Hauptgründe für den Brexit. Der Brexit ist ein Projekt der rechtsgerichteten politischen Ecke, die sich gegen Regulierungen stellt. Das ist das Gleiche wie in den USA. Es geht immer darum, dass der Staat zum Wohle der privaten Wirtschaft reduziert werden soll. Die Großindustrie will sich nicht auf die Finger schauen lassen. Wir sind als Briten aus der EU ausgetreten, weil Großindustrie und Privatwirtschaft gesagt haben: Die EU mischt sich ständig ein, aber wir wollen unreguliert sein.

"Ich glaube, dass es einen Vertrag geben wird"

tagesschau.de: Die Zeit für ein Abkommen mit der EU drängt. Wenn das nicht klappt, gibt es denn andere Abkommen, die das ausgleichen würden?  

Hobhouse: Ja, das wird alles versprochen. Besonders dieses großartige Handelsabkommen mit den Vereinigten Staaten. Kritiker haben immer gesagt, wir haben ja gar keine Verhandlungsmacht mehr, wenn wir als ein kleines Land ohne Rückhalt der EU auftreten. Wir haben jetzt eine Regierung, die allen vorgaukelt, dass alles großartig wird und ein Abkommen mit den USA ganz nah ist, ebenso auch eines mit Indien. Es wird unglaublich viel Propaganda betrieben und es werden viele Vorteile aufgezählt, die der EU-Austritt gebracht haben soll. Irgendwann wird die britische Bevölkerung feststellen, dass das wirtschaftlich gar nicht so gut aussieht. Aber dann wird die Regierung das mit der Pandemie begründen.

tagesschau.de: Wenn London und Brüssel jeweils auf ihren Positionen beharren, droht dann ein Brexit ohne Anschlussabkommen?

Hobhouse: Ich glaube, dass es einen Vertrag geben wird. Bis zum 31. Oktober wird es zumindest das Skelett eines Abkommens geben. Für uns, die wir gegen den Brexit gekämpft haben, macht es keinen riesigen Unterschied, ob es einen harten, weichen oder mittelweichen Brexit gibt. Es wird ein ganz kleines Abkommen geben, weil beide Seiten irgendwie ihr Gesicht wahren müssen.

tagesschau.de: Was könnte Brüssel tun, um London ein Abkommen schmackhafter zu machen?

Hobhouse: Brüssel sollte bei den Fangquoten flexibler sein. London versteht auch nicht, warum immer über das ganz große Paket verhandelt werden muss. Es wäre besser, in bestimmten Bereichen kleine Vereinbarungen zu erreichen, damit mal ein Anfang gemacht ist. Damit würde auch eine gewisse Verständnisbereitschaft signalisiert. Wenn kleinere Sachen erst einmal abgehakt sind, kann man die großen Fragen und Probleme in der Zukunft angehen.

Die Fragen stellte Reinhard Baumgarten, SWR.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 07. September 2020 um 12:00 Uhr.