Türkischer Europaminister Ömer Celik
interview

Türkischer Minister Celik "Wir wollen EU-Mitglied sein"

Stand: 30.11.2016 08:37 Uhr

Die Türkei möchte weiter Vollmitglied der EU werden. Das sagte Europaminister Celik im Interview mit dem ARD-Europastudio Brüssel. Die Ankündigung von Präsident Erdogan, womöglich wieder mehr Flüchtlinge nach Europa durchzulassen, sei nur die Reaktion darauf, dass die EU ihre Versprechen nicht umsetze.

ARD: Herr Minister, letzte Woche hat das Europäische Parlament dazu aufgerufen, die Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei auszusetzen. Wie würden Sie die Beziehungen heute beschreiben?

Ömer Celik: Wir haben bereits erklärt, dass es der jüngsten Resolution des Europäischen Parlaments an Weitsicht mangelt. Wir haben das mehrfach gesagt. Sie müssen die Umstände sehen: Die Türkei hat letzten Sommer, am 15. Juli, einen schweren Putschversuch überstanden. Dazu kommt, dass wir 1295 Kilometer Grenze mit dem Irak und Syrien haben. Wir bekämpfen den Terrorismus in unserem Land. Und oben drauf haben wir noch drei Millionen Flüchtlinge - wegen der Lage in Syrien. Wenn man all das berücksichtigt, wäre jetzt die Zeit, in der wir mehr Solidarität und mehr Unterstützung von den EU-Institutionen erwartet hätten. Stattdessen fordert das EU-Parlament, die Beitrittsverhandlungen einzufrieren. Da fehlt es an Weitsicht, die Resolution ist falsch.

Im nächsten Jahr werden in verschiedenen Ländern der EU Wahlen stattfinden, in insgesamt fünf Ländern. Das heißt, dass wir schon bald eine Neuordnung der europäischen Landkarte haben werden. Wir sehen einen Aufstieg der extremen Rechten, wir sehen einen Anstieg rassistischer Stimmungen in Europa. Das bedroht Europa.

Darüber hinaus hören wir seit den US-Wahlen Hinweise, dass Mr. Trump womöglich die transatlantischen Beziehungen verändert. Und dann noch der Brexit. Es liegen also jede Menge Unsicherheiten vor uns in naher Zukunft. Das heißt, dass jetzt eigentlich der Zeitpunkt wäre, um stärkere Brücken und stärkere Mechanismen zwischen Europa und der Türkei zu schaffen.

Türkischer Europaminister Ömer Celik
Zur Person

Ömer Çelik wurde 2013 ins Kabinett des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan berufen und ist seit Mai 2016 Europaminister der Türkei.

ARD: Doch nichtsdestotrotz hat ihr Präsident, Herr Erdogan, am Tag nach der Abstimmung im Europäischen Parlament damit gedroht, die Tore für Flüchtlinge zu öffnen. Wann wird das passieren - und warum diese Drohung?

Celik: Vom türkischen Standpunkt aus gesehen: Die Türkei bedroht niemanden in irgendeiner Hinsicht. Aber wir müssen die Realität betrachten. Seit einiger Zeit denken wir über die Versprechen nach, über die Zusagen, die zwischen der Türkei und der EU gemacht wurden. Die EU hat sich nicht an das Versprechen gehalten, die Dinge zu liefern, die damals abgemacht waren. Darüber hinaus haben wir im vergangenen Sommer einen schweren Putschversuch überstanden, wo wir keine Solidarität oder Unterstützung von den EU-Spitzen sehen konnten. Hinzu kommt, dass wir sehr schwere Zeiten durchmachen, weil wir versuchen, gegen den "Islamischen Staat", gegen die  PKK und die Putschisten vorzugehen.

Um auf die Äußerung unseres Präsidenten Erdogan zu sprechen zu kommen. Ich muss dazu sagen, dass hier zwei Parteien, die Türkei und die EU, sich gegenseitig Versprechen geben, sich gegenseitig Zugeständnisse machen. Aber der Gedanke ist doch, dass beide Parteien ihre Versprechen einhalten und respektieren. Wenn eine Partei ihre Versprechen nicht einhält, dann wäre die ganze Flüchtlingsvereinbarung bedeutungslos für die andere Seite.

 ARD: Wenn ich das richtig verstehe, wollen Sie also die Tore für die Flüchtlinge nach  Europa nicht wieder öffnen?

 Celik: Was die jetzige Situation angeht und die zwischen der Türkei und der EU gemachte Vereinbarung: Es hängt alles von der Nachhaltigkeit dieses Abkommens ab. Ich meine, es gibt viele Elemente in dieser Vereinbarung, aber die EU konzentriert sich nur auf einen Teil davon und nicht auf die anderen. Aber in der gleichen Art und Weise sind wir nicht in der Lage, den Flüchtlingsdeal so aufrecht zu erhalten wie er jetzt ist. So lange die EU nicht ihre Versprechen erfüllt. Oder: So lange wir weiterhin von nur negativen Resolutionen hören, anstatt von Solidarität und Unterstützung.

Was ich damit sagen will ist, dass die Türkei nicht auf die gleiche Art und Weise den Flüchtlingsdeal einhalten können wird, wie sie das bis jetzt getan hat. Der Deal hat verschiedene wichtige Bestandteile: Elemente wie Visaliberalisierung, Umverteilungen und Neuansiedlung von Flüchtlingen, zweimal drei Milliarden Euro, die finanzielle Hilfe, die die Türkei für die syrischen Flüchtlinge bekommen soll - oder die Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen. All diese Aspekte waren zentrale Bestandteil des Deals. Aber wir sehen: Keines dieser Versprechen, keines dieser Zugeständnisse wurde eingehalten.

Im Gegenteil: Anstatt die Verhandlungen zu beschleunigen, schlägt das Europäische Parlament vor, die Beitrittsgespräche einzufrieren. Und was die finanzielle Hilfe für die Türkei angeht: Das läuft sehr langsam. Wir haben jetzt 800.000 Flüchtlingskinder, die Zugang zu Bildung benötigen. Aber zu dem Zeitpunkt, wenn der Mechanismus endlich anfängt zu liefern, werden diese Kinder, so Leid es mir tut, schon das Rentenalter erreicht haben.

Die Versprechen werden momentan nicht eingehalten. Und wenn das Europäische Parlament weiterhin die Türkei mit dem Nichteinhalten der Versprechen bedroht, dann hat es keinen Sinn für die Türkei, an diesem Deal festzuhalten.

 ARD: Aber das hieße dann doch: Die Tore wieder zu öffnen?

Celik: Vielleicht führt das dazu. Ja, vielleicht könnten sie geöffnet werden. Weil die Türkei kein Konzentrationslager ist. Die Türkei ist kein Land, das man mit Geld für solche Dinge kaufen kann. Ich meine, die Türkei ist kein Land, an das andere Länder nur denken können, wenn es um die Flüchtlingskrise oder den Kampf gegen den Terrorismus geht. Die Türkei hat eine Führungsrolle bei der Terrorismusbekämpfung.

Die Türkei ist ein sehr starkes europäisches Land und seit dem letzten Jahrhundert immer eine sehr starke europäische Demokratie gewesen. Daher brauchen wir eine faire Haltung und wir müssen als gleichwertiger Partner behandelt werden. Niemand hat das Recht die Türkei zu demütigen.

ARD: Die Türkei ist ein stolzes Land, hatte ein starkes Wirtschaftswachstum in den letzten zehn Jahren, ist ein wichtiger strategischer Partner wegen der geografischen Lage. Warum sagt nicht die Türkei einfach die Beitrittsverhandlungen ab?

Celik: Die Türkei ist ein souveränes Land, die Türkei ist eine große Demokratie und die Türkei hat bedeutende Fortschritte in den letzten Jahren gemacht, ohne dabei bereits ein Mitgliedstaat gewesen zu sein. Selbst wenn wir kein Mitgliedstaat mehr werden wollen würden, wir würden weiterhin unser Wachstum, unsere Entwicklung, unseren Fortschritt in der Art und Weise fortsetzen, wie wir es bis jetzt getan haben.

Aber wir wollen ein Mitgliedstaat der Europäischen Union sein, weil wir glauben, dass es für beide, die Türkei und die EU, Vorteile bringen würde. Wenn man die Werte, die geteilten Werte in der EU, die demokratische Integration und den möglichen Wandel der EU zu einer globalen Macht betrachtet, dann ist für so eine Perspektive die Türkei in der EU notwendig. Und für die Türkei gibt es auch einen sehr wichtigen Vorteil für das nationale türkische Interesse.

Ich glaube, dass heutzutage die EU mehr pluralistische Botschaften senden sollten. Wir brauchen die, weil leider manche Politiker glauben, dass die EU ein christlicher Club sei. Und mit einem möglichen Beitritt der Türkei zur EU, mit der Türkei als muslimischem Land, würde man eine sehr starke pluralistische Botschaft schicken. Das wäre ein sehr starkes Signal an die muslimische Welt und würde ihnen ein sehr wichtiges Ziel aufzeigen.

ARD: Herr Celik, sie klingen immer so beruhigend und vernünftig, Herr Erdogan wirkt auf mich immer aggressiv. Wem von Ihnen soll ich glauben?

Celik: Unser Präsident ist ein großer Führer - und er hat wichtige demokratische Reformen durchgesetzt. Politiker, die ihn näher kennen, wissen, dass er derjenige ist, der all diese Reformen besiegelt hat. Diese haben die Türkei viel näher an Europa herangeführt. Und es überhaupt erst ermöglicht, dass Beitrittsverhandlungen geführt werden. Alle Spitzen der EU, mit denen ich von Angesicht zu Angesicht spreche und die ihn kennen, sagen mir, was für ein großer Demokrat Herr Erdogan ist. Heute hören wir aber, dass manche Leute unseren Präsidenten einen Autokraten nennen oder gar einen Diktator. Aber ein Diktator ist per Definition jemand, der seine eigenen Bürger mit Panzern angreift. Aber wie wir letzten Sommer gesehen haben, stand Herr Erdogan an der Seite der Menschen gegen die Panzer, die uns überwältigen wollten. Unser Präsident stellte sich gegen Kampfflugzeuge, selbst sein Leben war dabei in Gefahr. Er ist der, der für all die wirtschaftlichen und demokratischen Reformen in der Türkei steht.

Sie beziehen sich jetzt auf einige seiner Äußerungen. Aber man muss seine Aussagen interpretieren, den Kontext sehen, in dem sie gemacht wurden – nicht losgelöst davon. Wann immer die EU mit zweierlei Maß misst, wenn sogar ihre scheinheilige Einstellung gegenüber der Türkei offensichtlich wird, oder wenn die EU negative Schritte unternimmt - dann hören sie auch solche Äußerungen von unserem Präsidenten. Und das zu Recht. Er repräsentiert ein stolzes Volk, eine sehr stolze türkische Republik. Er ist die Stimme der Türkei. Und viele europäische Regierungschefs, die eine enge und ehrliche Beziehung zu ihm haben, wissen, dass man mit ihm konstruktiv zusammenarbeiten kann. Zum Beispiel ist er seit 2002 gut mit Jean-Claude Juncker befreundet, das gleiche gilt für Frau Merkel und er ist deutlich erfahrener als viele europäische Politiker. Was für ihn wichtig ist, ist, dass sich beide Seiten an gegebene Versprechen halten und versuchen, Fortschritte zu erzielen.

ARD: Aber was bedeutet es dann, wenn Herr Erdogan letzte Woche damit droht, die Tore wieder zu öffnen. Hören wir nur einen Innenpolitiker, der die Stimmungen und Gefühle des türkischen Volkes aufnimmt? Oder hören wir da den Staatschef der Türkei? Wir nehmen Herrn Erdogan nämlich immer ganz ernst.

 Celik: Ich persönlich kenne unseren Präsidenten sehr gut, seit mittlerweile 20 Jahren. Alles, was er sagt, sagt er nicht nur aus innenpolitischen oder außenpolitischen Gründen. Wenn er etwas sagt, dann sagt er es, weil er daran glaubt. Und ich habe gerade die Umstände genannt, mit denen die Türkei umzugehen versucht. Es ist eine schwere Last für die Türkei. Und in diesem Moment hören wir von der Resolution des Europäischen Parlaments. Und deswegen ist das, was er sagt, angemessen und gerecht. Und es hat nichts mit innenpolitischen Angelegenheiten zu tun.

Wenn wir nach vorn schauen: Was getan werden muss, ist, dass Versprechen eingehalten und respektiert werden. Gegenüber der Türkei müssen wir eine ehrliche und angemessene Redeweise hören. Und die EU sollte Abstand von denen nehmen, die schwarzmalerische Propaganda zu betreiben. Ganz genau so wie wir Erfolg hatten, als wir die Flüchtlingsvereinbarung abgeschlossen haben. Wir müssen nach Möglichkeiten suchen, wie wir in offene Gespräche kommen, um Fortschritte zu erzielen. Jetzt ist die Zeit, in der wir engste und stärkste Beziehungen knüpfen müssen. Also die europäischen Politiker, die unseren Präsidenten sehr gut kennen, wissen, dass man mit ehrlichen Beziehungen, einem offenen Dialog tatsächlich Fortschritte erzielen kann. 

 ARD: Viele Menschen in Europa sind sehr besorgt über das, was wir derzeit fast wöchentlich aus der Türkei sehen: Immer wieder Menschen, die verhaftet werden, Menschen, die ihren Job verlieren. Ist das nur eine - ich sag mal übertriebene Reaktion nach einem versuchten Staatsstreich in ihrem Land. Oder bleibt das so: Kommen die Leute eines Tages wieder zurück auf ihre Posten oder bleiben sie im Gefängnis. Was wird passieren?

Celik: Wir sind jederzeit bereit, Informationen über die Untersuchungsverfahren und die Suspendierungen von Beamten zu geben. Denn im Moment arbeiten wir intensiv daran, die Drahtzieher des Putsches vom vergangenen Sommer zu bekämpfen. Und viele Mitglieder des Militärs haben ausgesagt. Sie haben ausgesagt und gestanden. Sie haben gestanden, dass sie die Anweisungen vom Führer der Gülen-Organisation hinter dem Staatsstreich befolgt haben. Sie haben eine geheime Software verwendet, die wir jetzt entschlüsselt haben. Wir kennen also die Informationen aus dieser geheimen Kommunikation. Viele hochrangige Richter und Staatsanwälte und weitere Mitglieder der Justiz werden gerade entlassen. Und die Richter, die Mitglieder der Justiz, die entlassen werden, haben ebenfalls bereits ausgesagt und gestanden.

Sie sagen, dass sie Anweisungen vom Anführer der Gülen-Organisation bekommen haben. Sie haben sichergestellt, dass Richter in die hohen Gerichte berufen wurden, wie an das Kassationsgericht, in den Staatsrat – und dass sie dann die Anweisungen ihres Anführers befolgen. Sie haben die Eingangstests zum öffentlichen Dienst manipuliert. Sie haben das Leben vieler junger Menschen gestohlen, sie haben andere benachteiligt. Wir haben nationale Auswahltests - und diese Tests wurden manipuliert. Übrigens: Wir sorgen auch dafür: Wenn es Fehler bei den Ermittlungen gibt, dann ist eine Berufung möglich. Die Leute können sich also wehren. Und einige haben ja auch ihren Aufgaben und Ämter schon zurück bekommen. Aber ich muss auch sagen: Die Untersuchungen laufen nach hohen Standards ab, immer im Rahmen der Gesetze. Als die Putschisten in unseren Behörden gearbeitet haben, hat Europa geschwiegen. Jetzt ergreifen wir Maßnahmen für die Unabhängigkeit unserer Justiz – um damit unsere Demokratie zu bewahren. Und deshalb müssen diese Leute auch ihre Ämter verlieren. Wenn wir das nicht machen würden, dann müssten wir kritisiert werden.

Das Interview führte Markus Preiß, ARD-Studio Brüssel

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 30. November 2016 um 15:00 Uhr.