Atomwaffen "Menschheit nicht weiter gefährden"
75 Jahre nach Hiroshima sind die Bemühungen um nukleare Abrüstung fast zum Erliegen gekommen. Die frühere UN-Abrüstungschefin Kane erklärt im Interview, was sich ändern muss - und warum sie den Atomwaffenverbotsvertrag nicht für nutzlos hält.
tagesschau.de: Seit Jahren bemühen sich die Vereinten Nationen, Nichtregierungsorganisationen und Ärztevereinigungen um eine weltweite Ächtung und ein Verbot von Atomwaffen. Doch der 2017 beschlossene Atomwaffenverbotsvertrag ist noch nicht in Kraft. Gleichzeitig wurden wichtige bilaterale Abrüstungsvereinbarungen von den USA gekündigt oder laufen aus.
Angela Kane: Das ist ein Grund zu großer Sorge in mehrfacher Hinsicht. Zum einen sind die weltweiten Rüstungsausgaben in Höhe von 1917 Milliarden US-Dollar die höchsten seit über einem Jahrzehnt, wie SIPRI, das Stockholmer Institut für Friedensforschung, feststellte.
Zum anderen haben die USA bilaterale Verträge mit Russland gekündigt: den INF-Vertrag über Mittelstreckenwaffen, den Vertrag über den Offenen Himmel. Der letzte noch bestehende bilaterale Vertrag ist New START, aber der läuft im Februar 2021 aus.
Nun gibt es zwar Gespräche zwischen Moskau und Washington über eine Verlängerung, aber die Trump-Regierung besteht darauf, dass auch China an diesen Verhandlungen teilnimmt. Die Chinesen erklärten zwar grundsätzlich ihre Gesprächsbereitschaft, aber erst dann, wenn die Zahl der Atomwaffen in den drei Ländern auf dem gleichen Niveau sei. Derzeit entfallen jedoch von den weltweit 13.400 Atomwaffen jeweils etwa 6000 auf die USA und Russland, wogegen China 320 besitzt. Somit wird es keine trilateralen Gespräche geben.
Und drittens: Die Atomwaffendoktrin der Trump-Regierung von 2018. Danach sollen Nuklearwaffen nicht nur als Abschreckung und Vergeltung gegen einen atomaren Angriff eingesetzt werden, sondern als Mittel in der Kriegsführung auch gegen Nicht-Atomstaaten. Das ist sehr besorgniserregend. Wann tritt so ein Fall ein? Bei einem Cyber-Angriff? Das ist nie definiert worden. Diese Unklarheit finde ich höchst bedenklich.
Angela Kane, ehemalige UN-Untergeneralsekretärin, war von 2012 bis 2015 die Hohe Repräsentantin der Vereinten Nationen für Abrüstungsfragen. Seit 2016 ist sie Vizepräsidentin des Internationalen Internationalen Instituts für Frieden (IIP) in Wien und Senior Fellow am Wiener Zentrum für Abrüstung und Nichtverbreitung. Kane lehrt als Gastprofessorin unter anderem in Paris (SciencesPo) und Peking (Tsinghua University).
tagesschau.de: Wann wird der 2017 beschlossene Atomwaffenverbotsvertrag in Kraft treten, und wird er überhaupt umgesetzt werden können?
Kane: 50 Staaten müssen den Atomwaffenverbotsvertrag ratifiziert haben, damit er in Kraft tritt. Momentan haben das 40 Länder gemacht. Ich schätze, die restlichen zehn Ratifizierungen werden wohl binnen zweier Jahre vorliegen. Aber alle neun Atomstaaten lehnen das Vertragswerk ab; das sind die fünf Atommächte USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich sowie vier Länder, die Atomwaffen besitzen: Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea.
Hinzu kommen alle NATO-Staaten, darunter Deutschland, die ebenfalls gegen den Atomwaffenverbotsvertrag sind, sich auch gar nicht an den Verhandlungen im Rahmen der UN-Konferenzen beteiligt haben. Und die USA und Großbritannien haben den Atomwaffenverbotsvertrag praktisch verhöhnt. Er gefährde die internationale Sicherheitsarchitektur, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg bewährt habe.
Ich persönlich erwarte nicht, dass es mit dem Inkrafttreten des Atomwaffenverbotsvertrages auch nur einen Nuklearsprengkopf weniger gibt. Aber trotzdem ist der Vertrag kein wertloses Stück Papier. Ich setze auf seine normative Kraft, die eine Dynamik entwickeln wird, befördert auch durch eine starke Unterstützung der Gesellschaft, der Bürger.
In einer vom Internationalen Roten Kreuz in Auftrag gegebenen Studie erklärten Anfang des Jahres 16.000 Jugendliche aus 16 Ländern mit überwältigender Mehrheit, dass Nuklearwaffen als Bedrohung der Menschheit nicht akzeptabel seien und mehr als die Hälfte der Befragten wollte ein Atomwaffenverbot.
50 Jahre nachdem der Atomwaffensperrvertrag vereinbart wurde, brauchen wir einen neuen, multilateralen Ansatz. Nukleare Abrüstung ist immer bilateral verhandelt worden, zwischen den USA und der Sowjetunion, danach Russland. Aber die Welt ist heute eine andere. Wir brauchen mehr Transparenz, mehr Sicherheit. Wir müssen jetzt etwas dafür tun, dass die Menschheit nicht weiterhin gefährdet wird.
tagesschau.de: Im Kalten Krieg herrschte ein atomares "Gleichgewicht des Schreckens" zwischen Ost und West, womit ein dritter Weltkrieg, ein Atomkrieg, verhindert werden sollte. Seit 30 Jahren ist der Kalte Krieg beendet. Warum setzen einige Staaten noch immer auf Atomwaffen?
Kane: Über Atomwaffen zu verfügen ist für die Staaten ein Machtfaktor, verbunden mit Prestige. Das habe ich in meiner Amtszeit als Hohe Repräsentantin immer wieder erlebt. US-Präsident Ronald Reagan und der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow erklärten 1987 gemeinsam, dass man keinen Nuklearkrieg anfangen sollte und nie gewinnen könne. Eine solche Erklärung sollte es auch von den Präsidenten Donald Trump und Wladimir Putin geben, die sie aber bislang verweigert haben.
Anstatt abzurüsten, verbal und militärisch, liefern sich Russland und die USA einen neuen nuklearen Wettlauf. Und auch China rüstet auf. Zwar hat sich die Anzahl der Sprengköpfe rein formal verringert, aber es wird erheblich investiert in die Modernisierung der Waffen.
Amerika hat sogenannte Mini-Nukes entwickelt, die zielgenauer und flexibler im Einsatz sein sollen. Die Gefahr ist, dass eine kleinere Atomwaffe schneller eingesetzt wird, weil man den Schaden für überschaubar erachtet.
tagesschau.de: Auch in Deutschland befinden sich US-Atomwaffen. Etwa 15 bis 20, schätzen Experten, sollen auf dem US-Luftwaffenstützpunkt in Büchel, Rheinland-Pfalz, gelagert sein. Nach der Ankündigung der Trump-Regierung, einen Teil der US-Truppen aus Deutschland abziehen zu wollen, fordern hier manche auch den Abzug der amerikanischen Nuklearwaffen. Andere betonen dagegen die Abschreckungskraft der Waffen und wie wichtig die nukleare Teilhabe Deutschlands sei.
Kane: Die Befehlshoheit hat ausschließlich der US-Präsident. Nur er ist ermächtigt, den Abschuss einer Atomwaffe zu veranlassen. Aber die Atomwaffen, die in Büchel lagern, würden durch deutsche Bundeswehrsoldaten abgeschossen werden. Das ist etwas, was ich sehr bedenklich finde.
Und einen weiteren Aspekt sollte man nicht außer Acht lassen: den Beschluss der Bundesregierung, bis 2025 aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie auszusteigen. Wenn man so einen Schritt geht, frage ich mich: Was machen dann noch Atomwaffen im Land? Wie ist das zu vereinbaren? Die Politik sollte sich hier der öffentlichen Diskussion stellen und nicht gegen die Bürger entscheiden.
tagesschau.de: Als Hohe Repräsentantin der Vereinten Nationen für Abrüstung nahmen Sie auch teil an den Gedenkfeiern in Hiroshima und Nagasaki. Wie haben Sie das erlebt?
Kane: Die Atombomben, die am 6. August 1945 auf Hiroshima und am 9. August 1945 auf Nagasaki abgeworfen wurden, sind für uns ein Teil der Geschichte, die uns mahnt. Aber die Menschen in diesen beiden Städten leben mit den schmerzlichen Erinnerungen an den Tod, an die Verwüstungen und das menschliche Leid, das die Bomben verursacht haben. Leid, das noch immer von den "Hibakusha" (den Überlebenden des Atomangriffes) verkörpert wird.
Mehrere Frauen, die überlebt hatten, erzählten mir, dass kein Mann sie heiraten wollte. Es hieß, die Frauen seien ja geschädigt durch die Atombombe. Ihr aller Schicksal soll im kollektiven Gedächtnis bleiben, an künftige Generationen weitergegeben werden. Auch deshalb sind die Hibakusha sehr aktiv gewesen bei den Verhandlungen in den UN über den Atomwaffenverbotsvertrag.
Das Interview führte Hilde Stadler, BR.