Italiens Integrationsminister im Interview "Lampedusa darf kein gesperrter Hafen bleiben"
Lampedusa steht für die gescheiterte EU-Flüchtlingspolitik: Noch ist der dortige Hafen für Bootsflüchtlinge gesperrt, doch Italiens Integrationsminister Riccardi will das ändern. Dass die Insel auf die Menschen unvorbereitet ist, sei "extrem gefährlich". Im ARD-Interview wirbt er auch für mehr Verständnis für Migranten.
ARD-Hörfunkstudio Rom: Herr Minister, die Regierung und der italienische Staat haben kein Geld. Was ist da in Sachen Integration überhaupt möglich? Was können Sie tun?
Andrea Riccardi: Wir müssen aus der Notsituation herauskommen, aus der Italien die Immigration behandelt hat, und in eine Phase der Integration eintreten. Einwanderung ist in Italien ja keine vorübergehende Erscheinung. Die Immigranten werden bei uns bleiben und zwar für immer. Das müssen die Italiener begreifen - und auch die staatlichen Institutionen. Wir müssen von den Notmaßnahmen abkommen und mit der Integration beginnen.
Andrea Riccardi, geb. 1950, ist Historiker und lehrte an der Uni Rom Geschichte. 1968 gründete er die katholische Gemeinschaft Sant' Egidio, die sich für Arme und Obdachlose einsetzt. 2009 wurde er mit dem Karlspreis geehrt. Nach dem Ende der Berlusconi-Regierung erhielt er den Auftrag, ein neues "Ministerium für Internationale Zusammenarbeit und Integration" aufzubauen.
"Die Mentalität der Menschen muss geändert werden"
ARD: Das Problem ist sehr groß und allumfassend. Schnelle Lösungen gibt es da nicht. Was sind für Sie die wichtigsten Punkte, die zuerst angegangen werden müssen?
Riccardi: Als erstes muss vor allem die Mentalität der Menschen geändert werden. Dies zu bewirken, ist schwer, vor allem zu Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise, wo es heißt: "Das Schiff geht unter, rette sich, wer kann - vor allem aber wir Italiener!" Das, was ich versuche, unseren Bürgern zu erklären, wenn ich durchs Land fahre, ist, dass die Einwanderer eine Bereicherung für uns sind. Die Immigranten nehmen den Italienern keine Arbeit weg. Im Gegenteil: Sie tragen ja zum Wachstum des italienischen Bruttosozialprodukts bei. Und sie tragen auch dazu bei, dass dieses Land zusammenhält.
ARD: Woran denken Sie da konkret?
Riccardi: Ich denke da an die ganzen Dienstleistungen, an all die Frauen und auch Männer, die sich um unsere Behinderten, um unsere Senioren kümmern (In Italien gibt es kaum Altenheime, die Betreuung in den Familien leisten Pfleger, die zumeist aus Entwicklungsländern kommen; Anm. d. Red.) und die den Italienern das Leben erleichtern. Sie sparen uns nebenbei viel Geld. Denn ein Behinderter oder ein alter Mensch, der in einer Einrichtung untergebracht werden muss, kostet den Staat Geld.
"Bei uns kommen die Einwanderer aus 150, 160 Nationen"
ARD: Wenn man die Integration von Einwanderern in Italien betrachtet - die Unterkünfte, in denen Asylbewerber untergebracht sind - kann man den Eindruck bekommen, dass die Menschen ziemlich alleine gelassen werden, dass Integration nach dem Motto läuft "Hilf Dir selbst, sonst hilft Dir keiner". Wie sehen Sie das?
Riccardi: Es gibt zwei große Modelle in Europa: Einmal das französische, das an die Identität des Staates glaubt. Das andere ist das englische, das an die Stärke der Gemeinschaft glaubt. In Italien gibt es diese Modelle nicht, wir sind pragmatisch. Man muss auch bedenken, dass das bei uns ganz anders läuft als in Deutschland. Bei Ihnen sind es überwiegend Türken und Kurden. Bei uns kommen die Einwanderer aus 150, 160 verschiedenen Nationen. Das macht das Problem leichter, auch wenn es dadurch komplexer wird.
ARD: Die Vorgänger-Regierung hat eine harte Ausländerpolitik verfolgt. Es gab auch ein ziemlich ausländerfeindliches Klima, Hass gegen Roma zum Beispiel. Welche Konsequenzen hatte das, was beschädigte diese Politik und wie schwierig ist es, das wieder zu kitten?
Riccardi: Ich denke, dass Italien dieses Problem auf positive Weise angehen muss. Das ist meine Haltung seit Jahrzehnten und das ist meine Einstellung. Ich bin vielleicht gerade deswegen ernannt worden und ich habe das Gefühl, dass das Klima sich ändert. Dies gilt sowohl für die Einstellung gegenüber den Roma als auch gegenüber allen anderen Ausländern.
Defekter Gemeinschaftssinn - die "Mutter der Krise"
ARD: Wie groß ist der Effekt der Wirtschaftskrise in diesem Zusammenhang?
Riccardi: Die Krise wiegt schwer. Auch Ausländer verlieren schließlich ihre Arbeit, viele Italiener verlieren ihre Jobs. Wir müssen uns daran gewöhnen, Opfer zu bringen. Auch die Ausländer müssen sich daran gewöhnen, Opfer zu bringen, wobei sie schon viele gebracht haben. Doch ich bin zuversichtlich. Meiner Meinung nach ist das größte Problem Italiens heute, dass der Gemeinschaftssinn kaputt gegangen ist. Ich spreche da immer von "der Mutter der Krise". Wir hatten einen wirklich großen Gemeinschaftssinn: die italienische Familie, die Parteien, die Gewerkschaften. Heute sind die italienische Frau und der italienische Mann bei Problemen viel einsamer, sozusagen auf sich selbst gestellt. Das ist eine Schwäche, eine Armut.
Lampedusa soll offen für Flüchtlinge sein
ARD: Der symbolischste Punkt in Sachen Einwanderung in Italien ist die Insel Lampedusa. Wir haben alle gesehen, was dort vergangenes Jahr passiert ist. Inzwischen ist das Erstaufnahmelager abgebrannt, der Hafen ist gesperrt. Was muss dort passieren? (Die Regierung Berlusconi hatte Lampedusa zum "unsicheren Hafen" erklärt und ihn damit für Bootsflüchtlinge gesperrt. Die Folge: Die Seenotrettung startet vom 200 Kilometer entfernten Sizilien und die Retter verlieren im Notfall bis zu 14 Stunden ; Anm. d. Red.)
Riccardi: Ich bin davon überzeugt, dass diese Entscheidung aufgehoben werden muss. Lampedusa darf kein für Bootsflüchtlinge gesperrter Hafen bleiben. Lampedusa muss für die Aufnahme von Flüchtlingen ausgerüstet werden. Dass Lampedusa nicht ausgerüstet ist, ist extrem gefährlich - für die Bewohner von Lampedusa und vor allen Dingen auch für die Einwanderer.
ARD: Auch, weil man nicht weiß, ob erneut viele Bootsflüchtlinge kommen?
Riccardi: Genau deswegen. Wir wissen es nicht. Wir haben Glück und wir müssen auch das Verantwortungsbewusstsein der tunesischen und libyschen Behörden anerkennen. Ich habe auch selbst mit den Behörden in Niger über Menschenhandel gesprochen. Dennoch: Lampedusa muss wieder funktionieren. Zum Wohl der Bewohner und zum Wohl der ankommenden Flüchtlinge.
"Das Tor zu Europa"
ARD: Ist Lampedusa eigentlich ein rein italienisches Problem? Inwieweit spielt Europa da eine Rolle?
Riccardi: Ich denke, dass Lampedusa das Tor zu Europa ist. Wir Europäer müssen lernen, unsere Grenzen und die Probleme der Immigration gemeinsam zu behandeln. Die Einwanderungsfragen müssen wie die Grenzfragen des 19. Jahrhunderts behandelt werden. Sie sind grenzübergreifend, keine nationale Frage, sondern eine europäische Frage. Schon allein, weil sich durch die Reisefreiheit in Europa auch die Migranten frei bewegen. Meiner Meinung nach müsste man Lampedusa - selbst wenn auch nur symbolisch - gemeinschaftlich betreuen.
ARD: Wie wahrscheinlich ist es denn, dass auf Lampedusa etwas passiert? Wird es im Parlament, in dem Ihre Regierung auf Unterstützung der großen Parteien angewiesen ist, dafür eine Mehrheit geben?
Riccardi: Lampedusa ist kein Problem von Mehrheiten im Parlament. Lampedusa ist einfach ein Problem des Handelns.
Das Interview führte Stefan Troendle, ARD-Hörfunkstudio Rom.