Diskussion um Seenotrettung "Solidarität allein reicht nicht"
"Menschen nicht aus Seenot zu retten, ist Verrat an unseren Werten": Migrationsexperte Knaus spricht im tagesschau.de-Interview über Solidarität, Seenotretter und Salvini.
tagesschau.de: Nach der Festnahme der "Sea-Watch"-Kapitänin haben zahlreiche Politiker Carola Rackete ihre Solidarität bekundet, darunter Bundesentwicklungsminister Gerd Müller und Bundesaußenminister Heiko Maas. Was halten Sie von solchen Äußerungen, nachdem die "Sea Watch 3" zuvor zwei Wochen im Mittelmeer unterwegs war und auch Deutschland sich nicht bereit erklärte, die Flüchtlinge aufzunehmen?
Gerald Knaus: Zunächst ist es gut, dass es in Deutschland zu dieser Frage einen breiten politischen Konsens gibt. Das ist in anderen europäischen Ländern nicht mehr der Fall. Aber es reicht nicht. Denn das, was hier passiert ist, war ja vorhersehbar - es war schließlich nicht der erste Fall dieser Art, man denke nur an die "Aquarius" im Juni 2018. Vor dem Hintergrund einer Zivilgesellschaft und einer Öffentlichkeit, die das Prinzip der Seenotrettung unterstützt, müssen deutsche Politiker vor allem konsequent und strategisch handeln.
Gerald Knaus leitet die gemeinnützige Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative" (ESI) und gilt als einer der Architekten des EU-Türkei-Abkommens. Der Österreicher ist in der Flüchtlingspolitik und im Umgang mit der Türkei ein gefragter Experte. Er studierte in Oxford, Brüssel und Bologna und war unter anderem als Analyst für die UN im Kosovo aktiv.
tagesschau.de: Wie sähe konsequentes Handeln denn aus?
Knaus: Sich nicht hinter einer unrealistischen zukünftigen europäischen Einigung über die Verteilung zu verstecken, zu der es nicht kommen wird, auch dank Leuten wie Orban und Salvini. Stattdessen sagen: Wir übernehmen Verantwortung, wir sind stolz auf diese deutschen Seenotretter und verpflichten uns, die Verantwortung für die von deutschen Organisationen Geretteten zu übernehmen. Es bringt wenig, wenn Politiker der Regierungsparteien Petitionen unterschreiben und Solidarität ausdrücken. Davon haben die Seenotretter nichts.
"Am Ende nimmt doch Deutschland die meisten auf"
tagesschau.de: Deutschland und vier andere europäische Länder hatten sich erst am Freitag zur Aufnahme der Geretteten bereit erklärt. Warum hat man so lange zugeschaut, wie sich die Lage an Bord zuspitzt?
Knaus: Dafür gibt es zwei Gründe. Der schlechte Grund ist, dass man andere Länder, vielleicht auch Italien, unter Druck setzen wollte, mehr zu tun. Die Erfahrung zeigt, dass das nicht gelingt, und am Ende ist es dann doch Deutschland, das die meisten Menschen aufnimmt. Das ist hoch anzuerkennen, aber in der Zwischenzeit wirkt Deutschland in den Augen anderer wie ein Heuchler, und darauf zielt die Propaganda Salvinis ab. Er sagt, Deutsche wollen retten, um ihr Gewissen zu beruhigen und dann die Menschen in Italien abladen. Nachdem Deutschland in den vergangenen Jahren Tausende im Monat aufgenommen hat, ist es unverständlich bei ein paar Hundert zu sagen, das ist nun zu viel. Damit erzeugt man überdies jeden Monat ein Drama, und macht so das Migrationsthema zum zentralen Thema - ein Geschenk für Rechtspopulisten.
Der ernstzunehmende Grund ist die Sorge, dass sich erneut Tausende Flüchtlinge in Bewegung setzen könnten. Dagegen kann man einwenden, dass es derzeit nur um einige hundert Menschen im Monat geht. Das sind geringe Zahlen. Sicherlich ist Retten alleine keine Politik, aber nicht zu retten, ist Verrat an unseren Werten.
"Italien bleibt nicht allein auf der Verantwortung sitzen"
tagesschau.de: Hat Salvini nicht auch Recht mit seiner Haltung, dass Italien nicht mehr das "Auffanglager" Europas sein möchte?
Knaus: Nein. Wenn es in den vergangenen zehn Jahren einen fairen Verteilschlüssel für Asylsuchende in Europa gegeben hätte, dann hätten Flüchtlinge aus dem Norden Europas nach Italien zurückgeschickt werden müssen. Italien lag in dieser Zeit fast immer unter der von der EU vorgeschlagenen Quote für Asylanträge.
Und wenn es um die Vergabe von Asyl geht, also wie viele Menschen tatsächlich Schutz bekommen und bleiben, liegt Deutschland in den vergangenen fünf Jahren ohnehin weit an der Spitze. Und andere Länder, wie etwa Schweden vergaben viel mehr Schutz als Italien, obwohl Schweden sechsmal kleiner ist als Italien. Salvini befeuert den Mythos, alle Flüchtlinge kämen nach Italien. Natürlich kommen dort die allermeisten an, aber dass Italien auf dieser Verantwortung allein sitzen blieb, stimmt einfach nicht.
"Das könnte Europa noch teuer zu stehen kommen"
tagesschau.de: Welche innenpolitischen Motive hat Salvini?
Knaus: Salvini ist es gelungen, eine Sechs-Prozent-Partei, eine Regionalpartei aus dem Norden, zur größten Partei im ganzen Land zu machen. Flüchtlinge und die Abwehr von Migranten, der Konflikt mit den angeblich heuchlerischen Nordeuropäern und der EU und die schwache widersprüchliche Politik der Vorgängerregierung in Rom waren seine Hauptthemen. Und Krisen wie die aktuelle, in den Medien wochenlang präsent, helfen ihm.
Es wird Europa teuer zu stehen kommen, wenn Salvini - womit man rechnen muss - bald Neuwahlen provoziert und dann zum Premierminister dieses wichtigen Landes wird.
Es ist auch Realpolitik, wenn Deutschland mit einem Gegenkonzept einer humanen, umsetzbaren Politik antritt. Dazu müsste man dann auch Menschen in ihre Heimatländer zurückführen, die keinen Schutz brauchen. Um keinen Anreiz mehr zu setzen, sich auf den Weg nach Libyen zu machen. Man man müsste ernsthaft darüber reden - so wie das die Bundeskanzlerin mit der Türkei 2016 tat - was man diesen Ländern anbieten kann, damit sie ihre Bürger auch zurücknehmen. Das ist dringender nötig denn je. Je länger Regierende in Deutschland denken, sie können das Fehlen einer Strategie im Mittelmeer aussitzen, desto höher die politischen Kosten.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.