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Russische Teilnahme bei Olympia "So ein Chaos hat es seit 1896 nicht gegeben"

Stand: 06.08.2016 04:43 Uhr

Die Olympischen Spiele sind offiziell eröffnet. Und trotzdem ist wegen einer Entscheidung des Sportgerichtshofs CAS immer noch nicht endgültig klar, welche russischen Sportler an den Start gehen dürfen. Ein Armutszeugnis, sagt ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt im tagesschau.de-Interview.

tagesschau.de: Sie haben mit Ihrer Recherche dazu beigetragen, dass das staatliche russische Doping aufgedeckt wird. Das IOC hat sich aber gegen einen Komplettausschluss der russischen Athleten entschieden. Jetzt dürfen von den ursprünglich 387 Sportlern wohl 271 an den Start gehen. Wie stehen Sie zu dieser Entscheidung?

Hajo Seppelt: Ich kann durchaus verstehen, dass russische Sportler, die nicht ins Dopingsystem involviert waren und sind, sich ungerecht behandelt gefühlt hätten, wäre ihnen eine Teilnahme bei Olympia verweigert worden. Und im Einzelfall wäre es sicherlich auch ungerecht. Die Frage ist allerdings, ob es nicht viel ungerechter ist, dass Athleten auf der ganzen Welt um ihre Lorbeeren gebracht worden sind von einem historisch nahezu beispiellosen System des Betrugs. Staatsdoping - politisch gesteuerter Sportbetrug - ist so ziemlich das schlimmste denkbare Szenario im Sport überhaupt.

In Deutschland haben wir damit unsere Erfahrungen in den 70er- und 80er-Jahren gemacht, als Staatsdoping den Sport in der DDR durchsetzte. Das ganze Ausmaß, die ganze Perfidie davon ist aber erst deutlich geworden, als die DDR nicht mehr existierte. Jetzt befinden wir uns allerdings gewissermaßen im Auge des Sturms, weil dieses System ja bis vor kurzem offensichtlich funktioniert hat. Und wenn der organisierte Sport bei einem solchen Szenario des Betrugs nicht die Karte der Ultima Ratio zieht, dann weiß ich nicht, was noch alles passieren muss. Schlimmer als so, wie wir es gerade erleben, kann Doping ja eigentlich nicht mehr betrieben werden.

Zur Person

Hajo Seppelt ist Doping-Experte der ARD. Seit 2006 recherchiert er zu Doping im internationalen Spitzensport. Im Dezember 2014 wurde sein Film "Geheimsache Doping: Wie Russland seine Sieger macht" in der ARD ausgestrahlt. Daraufhin traten mehrere Personen von ihren Ämtern in internationalen Sportorganisationen und Anti-Doping-Einrichtungen zurück oder wurden suspendiert. Im November 2015 bestätigte Richard Pound, Leiter einer Untersuchungskommission der Welt-Anti-Doping-Agentur, die Inhalte aus Seppelts Dokumentation.

tagesschau.de Welches Signal hat also das IOC mit seiner Entscheidung gesandt, als es den Komplettausschuss russischer Sportler verweigerte?

Seppelt: Ich kann sehr gut verstehen, dass sich Leute jetzt ernsthafte Sorgen um die Zukunft der olympischen Bewegung machen. Denn das war eine historisch fragwürdige Entscheidung, die wahrscheinlich auch für die Zukunft bedeutet, dass man vor bedeutenden Sportnationen einknickt. Ich kann verstehen, dass in solchen Situationen oft auch Menschen in Mitleidenschaft gezogen werden, die unschuldig sind. Das ist schlimm. Aber so ist die Antwort des IOC mit Thomas Bach an der Spitze: "Seht her, ihr könnt nach Lust und Laune manipulieren, tricksen, betrügen und dopen. Trotzdem, herzlich willkommen bei Olympia!"

tagesschau.de: Das IOC hatte aber wohl zuvor bereits gedopten und deswegen gesperrten Sportlern die Starterlaubnis verweigert. Dagegen haben drei Sportler vor dem Internationale Sportgerichtshof (CAS) geklagt, welches nun den Ausschluss für "nicht durchsetzbar" erklärte. Halten Sie diese Entscheidungen für richtig?

Seppelt: Die sogenannte Osaka-Regel, nach der man doppelt bestrafen kann, ist ja bereits vor einigen Jahren gekippt worden. Daher ist die aktuelle CAS-Entscheidung formal richtig. Damit stellt sich aber die Frage, ob das IOC den ganzen Karren nicht vielleicht absichtlich vor die Wand hat fahren lassen, damit russische Sportler auf verschiedene Arten doch noch ein Startrecht bekommen können. Oder hat das Komitee letztendlich eine fragile und wenig durchdachte Lösung geschaffen, obwohl es hätte wissen müssen, dass es mit dieser Lösung gegen geltendes Recht verstößt? Ich kann es in diesen speziellen Einzelfällen tatsächlich verstehen, dass Sportler einen Ausschluss nicht hinnehmen wollen. Nur dann muss man sich fragen, warum auch nicht Julia Stepanowa eine Teilnahme ermöglicht wird, denn sie ist ja ebenso ein Opfer der Doppelbestrafung.  

Fatale Botschaft an mögliche Whistleblower

tagesschau.de: Könnte denn nicht auch die Doping-Whistleblowerin Stepanowa vor dem CAS gegen ihren Ausschluss klagen?

Seppelt: Selbst wenn sie klagen würde und Recht bekäme: Für eine Teilnahme müsste das Russische Olympische Komitee sie nominieren und das werden sie sicherlich nicht tun. Und um sie etwa unter einer anderen Flagge laufen zu lassen, müsste man erst eine entsprechende Regelung schaffen - wie man für das Flüchtlingsteam eine geschaffen hat. Der IOC-Präsident Thomas Bach hat offenkundig mit aller Macht versucht, den Start der Frau, die das komplexe Doping-System Russlands entlarvt hat, zu verhindern.

tagesschau.de: Was bedeutet Stepanowas Ausschluss durch den IOC für zukünftige Recherchen und Whistleblower?

Seppelt: In meinen Augen sendet das Vorgehen des IOC eine fatale Botschaft, ein sehr besorgniserregendes Signal. Whistleblower, die für einen sauberen Sport kämpfen, gehen Risiken ein und legen geheime Informationen aus einem Schattenreich offen. Für ihren Mut werden sie aber weder hofiert noch belohnt, sondern bestraft.

tagesschau.de: So kurz vor der offiziellen Eröffnung der Olympischen Spiele ist mit der neuen CAS-Entscheidung immer noch nicht endgültig klar, wer von den russischen Athleten an den Start gehen darf und wer nicht. Welches Licht wirft diese Situation auf die Spiele?

Seppelt: Ich glaube, ein solches Chaos bei der Zulassung von Sportlern hat es seit den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit 1896 nicht gegeben. Das ist ein Armutszeugnis für den organisierten Sport und die Dopingbekämpfung.

Weniger Doper - weniger Doping

tagesschau.de: Kann man davon ausgehen, dass diese Spiele zumindest in Sachen Doping sauberer ablaufen, weil alle genau hinschauen?

Seppelt: Ob man da tatsächlich genauer hinschaut, ist in meinen Augen eine andere Frage. Es ist aber grundsätzlich immer besser, wenn weniger Doper bei den Spielen teilnehmen, denn weniger Doper bedeutet vermutlich weniger Doping. Aber zu glauben, dass die Spiele deshalb sauberer sind, lenkt von der Tatsache ab, dass wir bisher nur von einem Land sprechen, nämlich von Russland. Hätte es all die Recherchen und Untersuchungen auch für andere Länder gegeben, wäre die Situation vermutlich noch fataler, als sie jetzt schon ist.

tagesschau.de: Aber stehen die Doping-Agenturen und -Labore momentan nicht unter einer besonderen Beobachtung und einem enormen Druck?

Seppelt: Ja, das sicherlich. Nachvollziehbar ist auch, dass es PR-strategisch vorteilhaft wäre, nach außen den Eindruck zu vermitteln, dass man jetzt mit harter Hand agiert. Aber wir dürfen uns nichts vormachen. Angekündigte Doping-Kontrollen bei Wettkämpfen sind häufig ein Muster ohne Wert. Denn Doping betreibt man in der Regel  in der Vorbereitung und nicht dann, wenn man leicht riskiert, sich erwischen zu lassen.

tagesschau.de: Mit welcher Einstellung gehen Sie in diese Spiele, Herr Seppelt?

Seppelt: Ich werde mir diese Spiele mit der gebotenen journalistischen Distanz anschauen.

Das Interview führte Natalia Frumkina, tagesschau.de