Opposition in Ägypten "Es gibt ein gemeinsames Ziel"
Hunderttausende Ägypter haben gegen Präsident Mursi demonstriert - und ihr Ziel erreicht. Der Politologe Hamadi El Aouni erklärt im Gespräch mit tagesschau.de, das wir vor dem Sturz Mursis geführt haben, was die Demonstranten wollen und wer den größten Einfluss hat.
tagesschau.de: Seit Wochen demonstrieren Massen von Oppositionellen in den Straßen von Kairo und fordern den Rücktritt von Präsident Mursi, um den Weg für eine vorgezogene Präsidentenwahl freizumachen. Sind sie sich denn überhaupt einig über das, was sie wollen?
Hamadi El Aouni: Ja, es gibt einen oppositionellen Konsens und der lautet: Mursi muss weg. Und: Die politische Ära der Muslimbruderschaft soll ein für alle Mal beendet sein. Mursi hat kaum noch Rückhalt. Als seine Milizen gestern in den Straßen von Kairo demonstrieren wollten, sind sie von Bürgern mit Wasser beworfen und angeschrien worden. Mursi hat nur noch seine disziplinierten Anhänger, sympathisierenden Salafisten und die Hamas.
tagesschau.de: Sind denn all die Menschen auf den Straßen der Opposition zuzurechnen? Oder sind das einfach Bürger, die demonstrieren, weil sie merken, dass der lang ersehnte Wandel nicht gekommen ist?
El Aouni: Man muss zwischen der organisierten und der spontanen Opposition unterscheiden. Die spontane Opposition ist das Volk auf der Straße, das immer mehr von sich zu hören gibt. Wahrscheinlich sind diese Menschen zurzeit die stärkste Kraft, weil es so viele sind.
"ElBaradei ist belastet. Er ist ein Mann Mubaraks"
tagesschau.de: Medien berichten, dass die Opposition den Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei als ihren Sprecher eingesetzt hat. Ist er die zentrale Figur der Opposition?
El Aouni: Nein. Der Westen hätte es gerne so. Aber ElBaradei ist nicht sonderlich beliebt in der Bevölkerung. Er wird zwar mit verhandeln, aber er ist belastet. Er ist ein Mann Mubaraks. Als ehemaliger Direktor der Internationalen Atomenergiebehörde hat er eine sehr negative Rolle im Kapitel Irak gespielt. Er hat den USA blind gehorcht. Diese Haltung hat dazu beigetragen, dass der Irak zerstört wurde. So sehen das die Intellektuellen und Jugendlichen. Auch die Liberalen unterstützen ElBaradei nur bedingt.
Hamadi El-Aouni ist Politikwissenschaftler und stammt aus Tunesien. Er lehrt an der Freien Universität Berlin im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften mit den Schwerpunkten Umwälzungen in der arabischen Gesellschaft und den politischen Systemen sowie Internationale Beziehungen. Er gilt als Kritiker der Muslimbrüder.
tagesschau.de: Gibt es denn eine zentrale Figur?
El Aouni: Ja, Hamdin Sabahi. Er gehört zu der Gruppe der Intellektuellen, der Nasseristen. Das ist die größte Strömung der organisierten Opposition. Ihr gehören Intellektuelle, Gewerkschafter, Hochschullehrer, Richter und Anwälte an. Sehr viele Studenten sympathisieren mit ihr. Würde es jetzt Präsidentschaftswahlen geben, würde Sabahi sicherlich haushoch gewinnen.
tagesschau.de: Welche politischen Ziele verfolgt er?
El Aouni: Er setzt sich für eine fortschrittliche Wirtschaftspolitik ein und will, dass Ägypten politisch eine integrative Rolle in der Arabischen Region spielt. Er will die Institutionen demokratisieren. Er ist besonders bei den Gewerkschaftern sehr beliebt.
tagesschau.de: Was für eine Rolle würde bei ihm das Militär spielen?
El Aouni: Es wird sich auf die Sicherheit des Landes konzentrieren und sich von einem Teil seiner Wirtschaftsmacht trennen müssen. Noch ist das Militär reich und mächtig. Die Amerikaner unterstützen es jährlich mit über einer Milliarde Dollar. Sabahis Ziel ist es, das Militär unabhängiger von den USA zu machen.
"Der Grundkonsens ist: Mursi muss weg"
tagesschau.de: Wie stehen die organisierten Strömungen zueinander? Sind sie nicht sehr gespalten?
El Aouni: Auch hier ist der Grundkonsens der gleiche: Mursi muss weg. Aber innerhalb der Strömungen gibt es natürlich Unterschiede. Der liberale Flügel, der von Mohammed ElBaradei und dem ehemaligen Außenminister Amr Mussa geführt wird, ist eher westlich orientiert.
Dann gibt es die ägyptischen Intellektuellen, auch Nasseristen genannt, die das Land regional und wirtschaftlich stärken wollen. Die dritte Strömung sind die ägyptischen Kopten, die sich für die Gleichstellung von Muslimen und Nichtmuslimen einsetzen, was ja bei der Muslimbruderschaft überhaupt nicht gegeben ist.
Eine weitere Gruppe ist die semi-organisierte Strömung der jungen Revolutionäre, die die Ziele verfolgen, für die sie im Januar 2011 auf die Straße gegangen sind. Sie wollen am Tisch ganz vorne sitzen. Sie wollen sich die Fäden nicht mehr aus der Hand nehmen lassen.
tagesschau.de: Unterstützen alle Strömungen der Opposition das Militär? Vor einem Jahr haben ja viele noch dagegen demonstriert.
El Aouni: Fast alle. Die Liberalen sind für eine Unterstützung der Militärs. Die Nasseristen auch, aber Teile der jungen Revolutionäre wollen nicht, dass das Militär die politischen Geschäfte in die Hand nimmt.
tagesschau.de: Gibt es denn außer 'Mursi muss weg' noch einen weiteren Konsens der Oppositionsströmungen? Was soll nach Mursi geschehen?
El Aouni: Die Opposition will, dass eine provisorische Instanz an die Macht kommt mit dem Präsidenten des Obersten Verfassungsgerichts an der Spitze. Sie will eine neue Verfassung mit neuem Wahlrecht und neuen Mediengesetzen. Und schließlich will sie freie Präsidentschafts- und dann Parlamentswahlen.
Das Interview führte Friederike Ott, tagesschau.de, vor der Absetzung Mursis.