Irak-Experte Walde zum Machtkampf "Bagdad ist auf der Kippe"
Der schnelle Vormarsch von ISIS ist nach Ansicht des Irak-Experten Falko Walde auf eine große Unterstützung der Bevölkerung zurückzuführen. Der Hass auf die Regierung scheine größer zu sein als die Angst vor den Islamisten, sagt er gegenüber tagesschau.de.
tagesschau.de: Wie können einige tausend Kämpfer mehrere Städte im Irak besetzen?
Falko Walde: Das ist in der Tat überraschend gekommen und hat mehrere Gründe: Die ISIS ist sehr gut ausgerüstet. Waffen und Kämpfer kommen aus dem syrischen Bürgerkrieg über die sehr porösen Grenzen zu Syrien und der Türkei in den Irak. Außerdem sind die Milizen durch den Bürgerkrieg kampferfahren und haben eine hohe Kampfmoral - sie sind fanatisch und fürchten oft nicht einmal den Tod. Zudem hatten sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite, als sie etwa Mossul angriffen.
tagesschau.de: Warum haben die irakischen Streitkräfte ihnen offenbar nichts entgegenzusetzen?
Walde: Ich hätte es selbst kaum für möglich gehalten, aber die Antwort haben wir gestern bekommen. Die Armee ist scheinbar völlig demoralisiert, außerdem fehlt es an Loyalität - sowohl gegenüber Vorgesetzten als auch der Regierung in Bagdad. Allerdings ist anzunehmen, dass das Vorrücken von ISIS nicht in der Geschwindigkeit weitergeht. Kurdische und schiitische Milizen im Irak sind gut aufgestellt und durchaus im Stande, ISIS Paroli zu bieten. Irakische Streitkräfte könnten - unter Umständen auch mit Unterstützung der USA - jetzt mit Luftschlägen reagieren.
Falko Walde ist Projekt-Koordinator der Friedrich-Naumann-Stiftung in Amman (Jordanien). Die FDP-nahe Organisation berät dort unter anderem politische Entscheidungsträger im Nordirak.
tagesschau.de: Ist ISIS militärisch stark genug, um gegen die Hauptstadt Bagdad vorzurücken?
Walde: Das Vorrücken ist besorgniserregend. Bagdad sehe ich auf der Kippe. Es gibt Berichte, dass bereits ISIS-Kämpfer die Hauptstadt infiltriert haben und darauf warten, loszuschlagen. Durch die bisherigen Eroberungen verfügt die Gruppe nun auch über schwere Waffen einschließlich sehr fortgeschrittener Technologie. Ich glaube allerdings nicht, dass sich der gesamte Irak so einfach einnehmen lässt wie die Städte im Westen und Norden. Die Schlacht muss erst noch geschlagen werden.
tagesschau.de: Wer ist die ISIS?
Walde: ISIS ist eine der radikalsten und gefährlichsten Gruppen in dem Gebiet und hat den Ruf, besonders hart vorzugehen. Wahrscheinlich sind inzwischen etwa 10.000 bis 15.000 Mann unter Waffen, meist Syrer und Iraker, aber auch fanatische Europäer und Amerikaner. ISIS ist aus der Terrorgruppe Al Kaida im Irak hervorgegangen und nach Streit über Ausrichtung und Ideologie vor ungefähr einem Jahr von ihr unabhängig. In Syrien etwa kämpft ISIS gegen Al-Kaida-treue Milizen.
tagesschau.de: Was ist das Ziel der Gruppe?
Walde: Zur Zeit ist ISIS vor allem in Syrien und im Irak aktiv. Ein erster Schritt ist zunächst, in den sunnitischen Gebieten in Syrien und Irak Fuß zu fassen. Das Ziel ist ein grenzüberschreitender Gottesstaat, in dem die Scharia gilt. Die Ausdehnung des angepeilten Gottesstaates ist grundsätzlich unbegrenzt.
tagesschau.de: Wer finanziert sie und woher kommen die Waffen?
Walde: Es gibt in den Golf-Staaten große Unterstützer solcher Milizen. Meist handelt es sich dabei nicht um die jeweilige Regierung sondern um Privatiers. Wir haben glaubwürdige Berichte über Spenden in sehr großem Umfang. Außerdem erbeutet ISIS bei Eroberungen Ressourcen. Seit Mittwoch ist die größte Ölraffinerie des Irak in der Hand der Gruppe. Die Miliz kontrolliert auch den Handel in Teilen Syriens und fordert Abgaben ein. Ob unter den Waffen, über die ISIS verfügt, auch welche sind, die westliche Staaten den Rebellen in Syrien zur Verfügung stellten, vermag ich nicht zu sagen.
tagesschau.de: Werden sie von Sunniten im Irak unterstützt, die sich von Regierungschef al Maliki benachteiligt fühlen?
Walde: Die Geländegewinne wären nie möglich gewesen, wenn nicht ein gehöriger Teil der Bevölkerung die ISIS unterstützen würde. Es scheint, dass der Hass auf die Regierung al Malikis teils größer ist als die Angst vor den Islamisten. Seit Monaten werden Teile des Landes von ISIS gehalten, sie konnten von der irakischen Armee nicht zurückerobert werden. Aber das Bild ist uneinheitlich, es gibt wechselnde Allianzen und Loyalitäten. Offenbar wurden Zweckbündnisse zwischen ISIS und ehemaligen Unterstützern Saddam Husseins geschlossen. Mehr als 500.000 Menschen sind im Irak auf der Flucht - aber nicht alle vor ISIS. Viele fürchten baldige Luftschläge der Armee oder Drohnenangriffe der USA.
tagesschau.de: Gibt es eine Verschwörung gegen al Maliki, wie dieser behauptet?
Walde: Es gibt Berichte, wonach in einigen Einheiten der irakischen Armee Befehle erteilt worden seien, die Waffen niederzulegen. Das Wort Verschwörung soll suggerieren, dass dies der alleinige Grund für das Versagen der Armee ist. Ich halte das für eine Taktik, um vom eigenen Versagen abzulenken. Al Maliki und seine Regierung hatten hinreichend Zeit, das, was jetzt passiert, zu verhindern. Dazu wäre eine Politik notwendig, die auch andere Ethnien und Religionsgruppen mit einbezieht. Es Bedarf jetzt politischer Schritte, um ein Abgleiten in den Bürgerkrieg zu verhindern.
Das Interview führte Michael Stürzenhofecker, tagesschau.de.