UN-Sonderbeauftragter zur Lage in Libyen "Jetzt müssen nur noch die Libyer an Bord"
In Libyen nutzt der IS das Chaos und breitet sich immer weiter aus. Doch anders als in Syrien verfolgt die internationale Gemeinschaft hier eine einheitliche Strategie, sagt der UN-Sondergesandte Kobler im Interview mit tagesschau.de. Jetzt müsse aber Libyen eine Einheitsregierung zustande bringen.
tagesschau.de: Im Moment schaut die Welt vor allem nach Syrien. Ist die Lage in Libyen nicht genauso komplex und gefährlich?
Martin Kobler: In der Tat, Libyen ist sehr kompliziert, es ist ein nicht existierender Staat mit Chaos und Anarchie. Es gibt praktisch keine effektive Regierung. Man spricht ja immer von zwei Regierungen. Aber diese Regierungen stehen weitgehend auf dem Papier. Es ist ein politisches und militärisches Vakuum, das der "Islamische Staat" ausfüllt.
Der deutsche Diplomat war Botschafter in Ägypten und im Irak, bevor er leitende Funktionen in den UN übernahm: In Afghanistan war er stellvertretender Leiter der UN-Mission, im Irak UN-Sonderbeauftragter. 2013 übernahm er die Leitung der UN-Friedensmission im Kongo, im November 2015 den Posten des UN-Sondergesandten für Libyen.
tagesschau.de: Besteht auch in Libyen die Gefahr, dass sich der Konflikt über die Grenzen hinaus ausbreitet?
Kobler: Drei Faktoren bestimmen die Diskussionen, auch in der Umsetzung des Friedensabkommens vom Dezember zwischen den konkurrierenden Parlamenten in Tobruk und Tripolis: Da ist erstens die Ausbreitung des "Islamischen Staates". Das Zweite ist die schlimme humanitäre Situation: 2,4 Millionen Menschen hängen von humanitärer Hilfe ab, 1,3 Millionen Menschen von Nahrungsmittelhilfe - das bei sechs Millionen Einwohnern in einem potenziell reichen Land.
Der dritte Faktor sind die schrumpfenden Einnahmen durch den Rückgang der Ölproduktion von 1,6 Millionen Barrel auf 350.000 Barrel pro Tag und natürlich der sinkende Ölpreis. Das zusammengenommen erhöht den Druck für eine politische Lösung und die Bestätigung der Einheitsregierung.
Libyen wird von Milizen, Clans und Stämmen beherrscht. Es gibt zwei Parlamente: ein von der internationalen Gemeinschaft anerkanntes Repräsentantenhaus in Tobruk und eines in der Hauptstadt Tripolis. Dort haben sich moderate Islamisten an die Macht geputscht. Nach mehr als einem Jahr Verhandlungen unter Vermittlung der UN einigten sich beide Parlamente auf einen Friedensplan. Theoretisch gibt es seit Mitte Januar eine Einheitsregierung, allerdings stimmten die Parlamente ihrer Besetzung noch nicht zu. Nun läuft eine Frist aus. Der IS nutzte das Chaos aus und setzte sich in der Stadt Sirte fest - der Heimatstadt des 2011 getöteten Ex-Machthabers Gaddafi.
tagesschau.de: Eine funktionierende Einheitsregierung haben EU und NATO aber zur Voraussetzung für einen möglichen Militäreinsatz gegen den "Islamischen Staat" in Libyen erklärt. Wie steht es um den Aufbau der Regierung?
Kobler: Derzeit wird an einer Liste mit den Mitgliedern der Einheitsregierung gearbeitet. Das macht der Präsidentschaftsrat in der marokkanischen Stadt Skhirat. Ich hoffe wirklich, dass das Repräsentantenhaus in Tobruk in den nächsten Tagen dieser Liste zustimmt. Die Regierung muss dann ihren Sitz in Tripolis errichten. Dort sind die staatlichen Institutionen. Allerdings muss dort erst die notwendige Sicherheitslage hergestellt werden.
tagesschau.de: Hätte denn die Einheitsregierung die Unterstützung der Bevölkerung, sollte sie einen internationalen Militäreinsatz erbitten?
Kobler: Die Libyer müssen den "Islamischen Staat" schon selber bekämpfen. Erst in zweiter Linie kann es darum gehen, internationale Hilfe anzufordern. Wichtig ist, dass es einheitliche libysche Sicherheitskräfte geben wird. Sie müssen aufgebaut und trainiert werden. Davon sind wir noch ein Stück weit entfernt.
tagesschau.de: Die Bundesregierung erwägt die Ausbildung libyscher Sicherheitskräfte auf tunesischem Boden. Muss da von Grund auf begonnen werden?
Kobler: Es sind schon Bestände und Armeestrukturen vorhanden. Die müssen zu libyschen Sicherheitskräften zusammengefasst und auf einen guten Standard gebracht werden. Da sind Ausbildungsmissionen hilfreich.
Verbindungen zwischen IS und Milizen
tagesschau.de: Profitieren die libyschen Milizen nicht vom Chaos und nutzen sie den IS nicht auch für ihre Machtspiele, indem sie mal mit ihm, mal gegen ihn kämpfen?
Kobler: In der Tat gibt es eine Verknüpfung des IS mit kriminellen Elementen. Ich habe allerdings während meiner Reisen in Libyen die Erfahrung gemacht, dass der Kampf gegen den IS ein Konsensthema ist, auch in der Bevölkerung. Es kann keine Zusammenarbeit mit dem IS geben. Manche mögen eine Zeit lang mit dem IS kooperieren und sich Sicherheit erkaufen, aber das zahlt sich nicht aus.
Unter Gaddafi gab es keinen Staat
tagesschau.de: Es ist sicher mühsam, die Parteien und Milizen zur Zusammenarbeit zu bewegen. Während ihrer Arbeit im Kongo hatten sie eine bewaffnete UN-Mission im Rücken. 1995 in Bosnien hatte der amerikanische Vermittler Richard Holbrooke die US-Armee hinter sich. In Libyen haben Sie keine UN-Friedensmission oder eine andere militärische Kraft zur Verfügung, um Druck auf den politischen Prozess auszuüben. Wie kann ihre Aufgabe trotzdem gelingen?
Kobler: Es ist eine Frage des Dialogs. Man muss ständig mit allen Parteien, den Milizen in Tripolis und Tobruk in Kontakt bleiben. Ich versuche oft, alle zusammen um einen Tisch zu versammeln. Auch die, die Gespräche anfangs boykottieren, kommen dazu. Eine sehr wichtige Rolle spielen die Stämme und die Gemeinden. Es gibt gewählte Bürgermeister in mehr als 90 Gemeinden in Libyen, die eine demokratische Legitimation haben und den Staat auf dieser Basis aufbauen.
Allerdings geht es nicht um die Wiederherstellung staatlicher Autorität, sondern darum, zum ersten Mal seit 40 Jahren wieder staatliche Strukturen herzustellen. Gaddafi hat uns die Illusion eines Staates vorgespielt. Es gab in den vergangenen 40 Jahren keinen funktionierenden Staat.
tagesschau.de: Gib es in der Bevölkerung den Willen, einen Staat aufzubauen?
Kobler: Es gibt eine Fülle von Partikularinteressen und jeder glaubt natürlich, alleine in seinem Stamm und in seinem Dorf die beste aller Welten zu haben. Allerdings sagen mir die Menschen auch immer wieder, dass sie sehr unzufrieden sind. Neulich bin ich in Tripolis auf den Markt gegangen und habe mich mit Libyern unterhalten, nicht nur mit Entscheidungsträgern. Das Bild war völlig klar: Die Menschen wollen, dass ihre Kinder zur Schule gehen. Sie wollen Elektrizität. Insofern gibt es die Einsicht, dass das man dazu den Staat braucht.
Breite internationale Unterstützung
tagesschau.de: Wie groß ist die internationale und regionale Unterstützung für eine Lösung der Konflikte in Libyen?
Kobler: Im Falle Libyens steht der UN-Sicherheitsrat vereint hinter dem Friedensabkommen, wie übrigens auch die Arabische Liga und die Afrikanische Union. Die Regionalmächte in Nordafrika können durchaus eine positive Rolle spielen. Natürlich hat der "Islamische Staat" Auswirkungen auf Tunesien, Algerien, Niger, Tschad. Auch Ägypten und die Anrainerstaaten sind entsetzt von dessen Ausbreitung. Deshalb sind sie alle an einer Lösung interessiert. Die internationale Absicherung ist ideal für unsere Arbeit. Jetzt müssen nur noch die Libyer an Bord.
tagesschau.de: Wenn Sie die Lage in Libyen heute betrachten, war der internationale Militäreinsatz gegen Gaddafi 2011 richtig?
Kobler: Diese hypothetische Frage ist schwer zu beantworten. Hätte man den Einsatz nicht gemacht, könnte dann Libyen vielleicht nicht aussehen wie Syrien heute? Auf der anderen Seite liegt die Stadt Bengasi jetzt auch in Schutt und Asche. Der Fehler von 2011 ist ganz klar: Man hat nicht an das Morgen gedacht. Man glaubte, es sei mit einem Militäreinsatz getan. Es war ein Fehler, den Libyern die Organisation des Staates zu überlassen mit den Konsequenzen Chaos, Anarchie und zerfallender Staat. Es ist nicht zu spät, dies zu korrigieren. Das betrachte ich als meine Aufgabe.
Das Interview führte Silvia Stöber, tagesschau.de