Interview zum Tod Gaddafis "Eine Befreiung - besonders für den Westen"
Der Tod des libyschen Ex-Diktators Gaddafi sei eine Befreiung - vor allem für den Westen, denn unangenehme Wahrheiten kämen nun nicht ans Tageslicht, sagt der Experte Andreas Dittmann im Gespräch mit tagesschau.de. In Libyen herrsche nun Aufbruchstimmung - doch Frauen würden zunehmend aus dem Übergangsrat verdrängt.
tagesschau.de: Wäre es für die Aufarbeitung der Vergangenheit in Libyen besser gewesen, wenn es einen Prozess gegen Gaddafi gegeben hätte?
Andreas Dittmann: Das wäre sicherlich besser gewesen. Der Tod Gaddafis ist aber auch eine Befreiung für viele Akteure, insbesondere für westliche.
tagesschau.de: Warum?
Dittmann: Es hat in der Vergangenheit eine Reihe von Deals gegeben mit Gaddafi, der zunächst der terroristische Schurke war, aber sich dann als europäischer Abwehrpolizist für Migranten instrumentalisieren ließ. Von daher dürften viele Akteure froh sein, wenn dies nun nicht alles zur Aussage kommt.
Prof. Dr. Andreas Dittmann ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Geographie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Anthropogeographie, Geographische Entwicklungsforschung, Kulturgeographie sowie Sozial- und Stadtgeographie. Seine regionalen Schwerpunkte sind unter anderem der islamische Orient sowie Afrika.
tagesschau.de: Experten befürchten bereits seit längerem, Libyen könne zersplittern. Sehen Sie diese Gefahr auch?
Dittmann: Dieses Szenario wird vor allem von westlichen Meinungsmachern an die Wand gezeichnet. Das ist aber eher eine Wunschvorstellung, die entstand, als das Gaddafi-Regime nicht fallen wollte. Da kam die Idee auf, das Land zu teilen – nämlich in ein Ost- und ein West-Libyen. Und das Öl war in den Händen der Rebellen im Osten. Dann hätte es einen Zugriff auf das Öl gegeben - und im Westteil hätte man Gaddafi einfach Gaddafi sein lassen können.
tagesschau.de: Nun ist der gemeinsame Feind Gaddafi besiegt - was eint die ehemaligen Rebellen jetzt noch?
Dittmann: Tatsächlich werden jetzt die unterschiedlichen Interessen stärker zutage treten. Bislang ist es gut gelungen, die verschiedenen Ethnien in den Rebellen- und nun in den Übergangsrat aufzunehmen. Aber jetzt, da der gemeinsame Feind weg ist und es um die Verteilung von Macht, Geld und Öl geht, kann man nur hoffen, dass die unterschiedlichen Interessen durch politische und nicht gewalttätige Auseinandersetzungen entschieden werden.
tagesschau.de: Wie hat sich die Zusammensetzung des Übergangrates entwickelt?
Dittmann: Am Anfang waren sehr viele junge Menschen - und auch Frauen dabei. Der Übergangsrat seniorisiert aber mittlerweile - das heißt, die Jüngeren und die Frauen werden verdrängt.
tagesschau.de: Warum?
Dittmann: Es geht um Geld und Macht - und in einer noch immer patriarchalen Gesellschaft ist es da praktisch vorgezeichnet, dass Frauen verdrängt werden. Auch wenn es heute nicht opportun erscheint dies zu sagen, aber es war ein Verdienst von Gaddafi, dass es eine gewisse Emanzipation gab. Daher hatte er auch kaum Sympathien bei den Islamisten.
tagesschau.de: Welche Rolle spielen die Islamisten heute?
Dittmann: Sie sind nicht so stark wie in Syrien oder Ägypten. Wir wissen derzeit wenig über ihre politischen Ambitionen. Die Islamisten waren unter Gaddafi die Hauptopposition - und vor allem im Osten des Landes stark. Das hat wesentlich zum Ost-West-Gegensatz beigetragen. Meines Erachtens gibt es keine Gefahr, dass die Islamisten die Macht in Libyen übernehmen.
tagesschau.de: Die junge Generation in Libyen ist in einer Diktatur aufgewachsen. Wie können da demokratische Strukturen aufgebaut werden?
Dittmann: Die jüngeren Menschen sind durchaus flexibel. Mehr als 50 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 40 Jahre - in diesem Alter kann man leichter und schneller lernen. Zudem sind sie international vernetzt.
tagesschau.de: Sind die jüngeren Menschen in Libyen denn international und kosmopolitisch orientiert?
Dittmann: Die Jüngeren sind sehr national orientiert. Ein starkes, stolzes Nationalbewusstsein ist weit verbreitet - und dieses wurde durch den Erfolg der Revolutionäre noch verstärkt. Wir haben jüngere Menschen in Libyen in wissenschaftliche Projekte eingebunden – und die Nachrichten aus dem Land zeigen uns eine allgemeine Aufbruchstimmung. Viele junge Libyer haben uns in Diskussionsgruppen gesagt, es könnte ihnen genauso gut gehen wie den Saudis - das Geld muss nur richtig verteilt werden. Aber auch für die jüngeren Menschen ist das Wegbrechen des Feindbilds Gaddafis ein gewisses Problem, denn dies hat sie geeint.
tagesschau.de: War die NATO in Libyen nur als militärischer Akteur erwünscht, um Gaddafi zu stürzen - oder soll der Westen auch bei der politischen Neugestaltung helfen?
Dittmann: Das Kapitel ist von libyscher Seite jetzt abgeschlossen. Die meisten Libyer meinen: Vielen Dank, bis hierhin und nicht weiter! Und die NATO täte gut daran, wenn sie nun das Mandat beendet, da es keine Gefahr mehr für die Zivilbevölkerung gibt.
tagesschau.de: Gaddafi ist weg - was bedeutet das für die libyschen Verbündeten in Afrika?
Dittmann: Bislang gab es einen Gegensatz zwischen der Politik Gaddafis, der eine Freundschaft zu den schwarzafrikanischen Staaten verordnet hat, und dem Hass auf Afrikaner in der libyschen Bevölkerung. Libyen ist schon lange ein Transitland für Flüchtlinge nach Europa - und diese Menschen wurden hier regelrecht gejagt, diese Übergriffe kamen aus der Bevölkerung. Ob die staatlich verordnete Umarmung schwarzafrikanischer Staaten durch die neue Regierung, die einen Kontrapunkt zu Gaddafi setzen will, fortgeführt wird, ist offen.
tagesschau.de: Ist dieser Rassismus auch bei der jungen Generation so stark ausgeprägt?
Dittmann: Ja, eindeutig. Seit Generationen gehen viele Libyer aggressiv gegen alle Menschen vor, die dunkelhäutig sind. Das ist besonders tragisch für die Libyer, die selbst dunkelhäutig sind. Das ist tief in der Gesellschaft verankert.
Das Interview führte Patrick Gensing, tagesschau.de