Experten bewerten die Optionen der EU Neu verhandeln? Wieder abstimmen? Ohne Irland?
Wie geht es weiter mit der Europäischen Union? Drei Schlagworte kursieren seit dem irischen Nein zum Vertrag von Lissabon: Die Iren könnten noch einmal abstimmen oder der Vertrag neu ausgehandelt werden. Oder wird die EU ein Europa der zwei Geschwindigkeiten?
Drei Politikwissenschaftler bewerten für tagesschau.dedie unterschiedlichen Optionen, die diskutiert werden.
Wichard Woyke
Wichard Woyke ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Münster. Ein Arbeitsschwerpunkt ist die Europäische Union.
Das ist eine theoretische Möglichkeit. Ich hielte es aber nicht für gut. Die Iren haben gewusst, worauf sie sich eingelassen haben, und sie haben eine Entscheidung getroffen. Eine zweite Volksabstimmung – das hat immer ein Geschmäckle.
Ein neuer Vertrag würde unwahrscheinlich schwierig. Es bleibt also beim geltenden Vertrag von Nizza. Das heißt, die EU ist zwar in der Krise, aber nicht handlungsunfähig. Und der Vertrag von Nizza sieht jetzt bereits vor, dass eine coopération renforcée, also eine verstärkte Zusammenarbeit, in bestimmten Bereichen möglich ist, wenn einige Staaten dies wünschen.
Wir haben jetzt bereits schon unterschiedliche Geschwindigkeiten in Europa: Es gibt die EU-27 mit allen Staaten, die EU-15 der Euro-Länder und den Schengen-Raum. Der ist wesentlich größer als die EU und enthält beispielsweise mit Norwegen auch ein Land der Nordischen Passunion, das nicht EU-Mitglied ist. Dafür gilt für Großbritannien und Irland der Wegfall der Passkontrollen nicht. Auch wenn die Politiker nicht laut darüber reden: Dies könnte die Lösung sein. Und wenn sich nun bei einer solchen coopération renforcée 26 der 27 EU-Staaten beteiligen würden, wäre auch eine Kooperation wie nach den Regeln des Vertrags von Lissabon möglich. Vielleicht sind aber auch alle Modelle Makulatur, wenn die irische Regierung der EU nun eigene neue Vorschläge präsentiert.
Daniela Schwarzer
Daniela Schwarzer ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Sie ist Mitglied der Forschungsgruppe EU-Integration der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
Für dieses Szenario gibt es einen Präzedenzfall - auch deshalb gehört es zu den am meisten diskutierten Vorgehensweisen. Der Vorschlag: Ein ausschließlich für Irland gültiges Protokoll zum Lissabon-Vertrag, das Themen aufgreift, die die Wähler zum "Nein" bewegt haben. Doch so einfach ist das nicht: Anders als 2001/2002, als die Iren mit dem Nizza-Vertrag vor allem Sorgen um Irlands Neutralität und Souveränität verbanden, sind die Ablehnungsgründe jetzt diffuser. Es werden für das Protokoll so unterschiedliche Themen wie Schutz der irischen Souveränität, der Steuerhoheit, der wirtschaftpolitischen Gestaltungsspielräume und des Abtreibungsrechts diskutiert - von denen nur ein Teil tatsächlich mit dem Lissabon-Vertrag zu tun hat. Noch schwerer die Warnung, das Votum des irischen Volkes durch ein weiteres Referendum zu übergehen. Fazit: Ein Protokoll für Irland scheint unmittelbar die schnellste und einfachste Lösung zu sein. Die politische Durchsetzbarkeit wird davon abhängen, welche Zugeständnisse gemacht werden und ob die irischen Meinungsführer diesen Weg mittragen. In jedem Fall bleibt die Frage, wie langfristig Akzeptanz für das europäische Projekt geschaffen werden kann und wie künftige EU-Verträge ratifiziert werden sollen.
Das würde bedeuten, dass die EU zunächst für Jahre auf Grundlage des Nizza-Vertrags weiterarbeitet. Eine völlige Neuverhandlung würde zudem vielleicht gar nicht zum Erfolg führen. Es müsste erst einmal ein Vorgehen gefunden werden, das in den Augen der Bevölkerung und der Regierungen effizient und legitim ist - und ein EU-weit akzeptables Ergebnis hervor bringt. Optiert der Europäische Rat für die völlige Neuverhandlung, was aus heutiger Sicht eher unwahrscheinlich erscheint, dann könnte dies zwei Entwicklungen nach sich ziehen. Erstens könnte damit begonnen werden, auf Grundlage des Nizza-Vertrags einzelne Neuerungen des Lissabon-Vertrags umzusetzen. Zweitens könnte sich in den Verhandlungen herauskristallisieren, dass unterschiedliche Länder unterschiedliche Interessen bei der europäischen Integration haben. Dies würde die Diskussion um ein "Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten" verstärken.
Bereits heute ist sind unterschiedliche Geschwindigkeiten und Intensitäten der Integration Realität. Der Euro verband erst elf, heute 15 der 27 Staaten. Der Schengen-Raum begann mit einer kleinen Gruppe von Ländern, die die gegenseitigen Grenzkontrollen abschafften. Auch bei der verteidigungs- und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit gibt es zwischen einigen Staaten verstärkte Kooperation. Ohne den Lissabon-Vertrag dürfte die Tendenz zu verstärkter Kooperation zwischen Ländergruppen gestärkt werden. Aber auch wenn er doch noch in Kraft tritt, kann die sich derzeit entwickelnde Grundsatzdiskussion um Zukunft, Sinn und Zweck des Integrationsprozesses dazu führen, dass einige Länder gemeinsame Interessen entdecken, die ein Voranschreiten in Kleingruppen nahelegen. Denkbar wäre dies etwa bei der Europäischen Währungsunion. Oder bei der Sicherheitspolitik, deren Weiterentwicklung Frankreich sich für seine Ratspräsidentschaft 2008 vorgenommen hat. Solche überlappende Patchworkkoalitionen in der EU können kurzfristig die Zusammenarbeit stärken, gehen jedoch auf Kosten der Transparenz - und das kann die EU-Institutionen schwächen.
Daniel Göler
Daniel Göler ist Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt European Studies an der Universität Passau.
Die Frage ist: Wie sähen dabei die Erfolgschancen aus? Beim Vertrag von Nizza 2001 war die Situation anders. Damals gab es beim Referendum in Irland nur eine sehr geringe Wahlbeteiligung, was den Nein-Sagern half. Diesmal lag sie bei 53 Prozent – das ist für irische Verhältnisse schon relativ hoch. Und die zweite Frage ist: Wie begründet man eine neue Abstimmung? Beim Vertrag von Nizza war in Irland die Angst vor dem Verlust der Neutralität entscheidend. Deshalb wurde der Vertrag vor der neuen Abstimmung um eine ausdrückliche Erklärung dazu ergänzt. Im Fall des ebenfalls skeptischen Dänemarks wurde dem Land die Möglichkeit eingeräumt, am Euro nicht teilzunehmen. So eine Opt-Out-Möglichkeit funktioniert beim Lissaboner Vertrag auch nicht. Die einzige Möglichkeit, noch einmal abzustimmen, sehe ich, falls der Vertrag in allen anderen Ländern ratifiziert wurde. Dann könnte die irische Regierung die Bevölkerung vor die Wahl stellen, den Vertrag zu ratifizieren oder auszutreten.
Der abgelehnte Vertrag von Lissabon war schon ein Kompromiss nach der 2005 gescheiterten Verfassung. Der Europaabgeordnete Jo Leinen hat treffend gesagt, er wisse gar nicht, was man nun noch verhandeln solle. Das Nein in Irland richtet sich auch nicht gegen einen einzelnen Punkt des Vertrags, sondern beruht auf relativ diffusen Ängsten, an die das "Nein"-Lager appellieren konnte. Das "Ja-Lager" hatte es dagegen schwer, da sich der Vertrag von Lissabon vor allem auf die institutionellen Reformfragen konzentriert: Das sind aber Themen, welche die Menschen kaum mobilisieren können. Das wäre in Deutschland nicht anders, wenn wir eine Volksabstimmung darüber hätten, wie viel Stimmen Bayern oder Bremen im Bundesrat haben soll. Wenn man nun an der Regelung der Entscheidungsverfahren ein bisschen etwas ändert, ändert das nichts an der Stimmung in Irland.
Das nützt in diesem Fall nichts. Kernpunkt des Vertrags von Lissabon sind die Entscheidungsverfahren in der EU. Sie sollten einfacher und effizienter werden. Hier kann es kein Europa der zwei Geschwindigkeiten geben. So etwas wäre nur nützlich, wenn es um Meinungsverschiedenheiten in einem einzelnen Politikfeld ginge.