Interview

Unterwegs im Sperrgebiet von Tschernobyl "Man wird die Radioaktivität nicht los"

Stand: 25.08.2007 16:31 Uhr

Am 26. April 1986 explodierte im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl ein Reaktorblock. Der größte anzunehmende Unfall war Realität geworden. 20 Jahre später reiste der WDR-Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar nach Tschernobyl und berichtete für die ARD aus dem gesperrten Gebiet und dem Unglücks-Reaktor.

tagesschau.de: Herr Yogeshwar, Sie waren mit einer Sondergenehmigung im Reaktorblock 4 unterwegs. Hatten Sie keine Angst?

Ranga Yogeshwar: Wenn man ein solches Unternehmen plant, muss man natürlich im Detail wissen, was man tut, wo man hingeht, wo man vielleicht ganz bewusst nicht hingeht. Wir mussten im Vorfeld alle unsere Kleider ausziehen. Man darf nur die Unterhose anbehalten. Man wird komplett neu eingekleidet - in mehreren Schichten. Das Haar wird abgebunden und man kriegt einen Mundschutz gegen den radioaktiven Staub. Und dann bewegt man sich in voller Montur Richtung Sarkophag mit einem Arsenal von hochempfindlichen Messgeräten, die ständig piepen. Wenn man vor dem Sarkophag steht, ist die Belastung 10.000-mal höher als normal. Dann ist entscheidend, dass man an diesen Orten sehr schnell weitergeht. Dann ist das zu vertreten.

tagesschau.de: Noch heute sind Bauarbeiter vor Ort, um diesen provisorischen Sarkophag irgendwie zu stabilisieren. Was wird mit dem Reaktorblock endgültig passieren?

Ranga Yogeshwar: Es gibt den Plan, das Kraftwerk total abzubauen, aber bis dahin muss noch sehr viel Radioaktivität abklingen. Man kann als Mensch immer noch nicht nah genug ran. Nun hofft man, dass im Jahre 2010 eine große Halle errichtet werden kann - 100 Meter hoch. Sie soll aufgrund der Strahlung in einiger Entfernung aufgebaut werden und dann mit einem Schienensystem über diesen Unglücksreaktor gerollt werden. Damit soll das System ein bisschen abgedichtet werden - und man spekuliert auf Zeit. Dieses Gebäude soll 100 Jahre halten, so heißt es in der Ausschreibung. Und in 50 Jahren ist die Robotertechnik möglicherweise so weit, dass dann der Unglücksreaktor Stück für Stück demontiert und somit Tschernobyl endlich abgebaut werden kann.

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tagesschau.de: Sie waren auch in der 30-Kilometer-Sperrzone um Tschernobyl unterwegs. Wie sieht es da heute aus?

Ranga Yogeshwar: Es gibt etwa zwei Kilometer Luftlinie vom Reaktor entfernt die Stadt Pripjat, die damals 50.000 Einwohner hatte und binnen drei Stunden evakuiert wurde. Pripjat ist heute eine Geisterstadt. Wir sind da durchgegangen und das ist völlig seltsam. Sie hören niemanden. Sie sehen Hochhäuser und Plätze. Sie sehen wie die Natur Land zurückerobert und Bäume plötzlich durch Treppenstufen herauswachsen. Sie sehen verlassene Kinderspielzeuge. Oder wenn Sie in die Schulen gehen – das hat mich besonders betroffen gemacht – dann liegen da noch Schulsachen aus dem April des Jahres 1986. Wir sind durch Zufall auf das Heft eines Mädchen gestoßen, das am Tag der Havarie eine Mathematikaufgabe gelöst hat. Das ist schon sehr beeindruckend.

tagesschau.de: Wie hat die Natur dort auf die Radioaktivität reagiert?

Ranga Yogeshwar: Ich habe keine Pferde mit acht Beinen gesehen oder Schafe mit zwei Köpfen. Aber es gab in unmittelbarer Nähe des Reaktors ein Areal, wo besonders viel Radioaktivität runtergekommen ist. Dies hat dazu geführt, dass Nadelbäume plötzlich rot wurden. Die Gegend heißt Red Forest. Man hat dann die gesamte Gegend planiert, also die Bäume abgeholzt und Tonnen von Erde draufgeworfen. So sollte das Problem gelöst werden.

Wir sind da hingegangen und haben den Boden gemessen. Der war halbwegs o.k.. Aber es sind neue Bäume gewachsen - und diese Bäume strahlen extrem. Denn sie ziehen mit ihren Wurzeln die Radioaktivität aus den unteren Erdschichten nach oben. Man merkt richtig, man wird diese Radioaktivität nicht so einfach los.

tagesschau.de: Auch bei uns ist 20 Jahre nach der Katastrophe immer noch die Radioaktivität deutlich zu messen.

Ranga Yogeshwar: Was man sich klar machen muss, die Halbwertszeit zum Beispiel des radioaktiven Cäsiums beträgt 30 Jahre. Heute ist die Aktivität von Cäsium immer noch mehr als halb so hoch wie unmittelbar nach der Katastrophe. Das zeigt sich zum Beispiel auch in Süddeutschland, wo ein Teil der Radioaktivität runterging. Es ist so, dass bestimmte Pilze heute immer noch strahlen. Auch Wildtiere wie Wildschweine, die natürlich im Boden wühlen, haben heute immer noch Spuren von Radioaktivität .

tagesschau.de: Bei all dem Leid, das Tschernobyl vor allem in der Ukraine über die Menschen gebracht hat: Was war die Konsequenz?

Ranga Yogeshwar: Ich glaube, die Katastrophe hat ein radikales Umdenken in Sachen Kernenergie zur Folge gehabt. Jeder hat gemerkt, was eigentlich die Konsequenzen sind, wenn so etwas passiert. Und viele Bürger hier haben sich einfach vorgestellt, was passiert wäre, wenn Tschernobyl nicht in dieser doch sehr dünnbesiedelten Ukraine geschehen wäre, sondern im dichtbesiedelten Ruhrgebiet. Ich glaube, das hätte auf Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte Folgen gehabt und Deutschland wäre in dem Moment wohl in Konkurs gegangen.

tagesschau.de: Sie haben früher selbst fünf Jahre in einem Forschungsreaktor gearbeitet. Können Sie der Atomenergie heute noch etwas Positives abgewinnen?

Ranga Yogeshwar: Auch wenn ich nicht zu den absoluten Gegnern der Kernenergie gehöre, muss man einfach eingestehen: Wenn man die Konsequenzen im Detail sieht, dann muss man sich einfach klar machen, das kleine Ursachen extrem große Folgen haben können. Dieses Risiko ist einfach gegeben. Und ich glaube, daher man muss einfach mit großem Nachdruck Alternativen suchen.

tagesschau.de: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es in einem deutschen Atomkraftwerk zu einem GAU kommt?

Ranga Yogeshwar: Ich habe nach Tschernobyl aufgehört mit diesen Spekulationen. Denn Tschernobyl war auch sehr unwahrscheinlich – auch nach russischen Berechnungen. Es liegt einfach in der Natur der Sache. Ein System, das auf dem Prinzip einer Kettenreaktion beruht, muss von Natur aus instabil sein. Insofern gebe ich keine Prognose ab. Ich bin gegenüber diesen Statistiken misstrauisch geworden.

Das Interview führte Farid Gardizi für tagesschau.de