Interview mit Ulrich Wickert "Frankreich hat die Brüderlichkeit vernachlässigt"
Die Wut der Randalierer in Frankreich richtet sich nicht zufällig gegen Kindergärten und Schulen. Nach Ansicht des Frankreich-Kenners Ulrich Wickert gilt sie Institutionen, in denen die Integration gescheitert ist. tagesschau.de sprach mit Wickert über die Ursachen der Ausschreitungen und ihre Folgen für Politik und Gesellschaft.
tagesschau.de: Die französische Integrationspolitik ist nach Ansicht von Innenminister Sarkozy gescheitert – was ist schief gelaufen?
Ulrich Wickert: Ich glaube, dass schon vor 20 bis 30 Jahren etwas schief gelaufen ist, als immer mehr Menschen aus dem Maghreb und aus Afrika nach Frankreich gekommen sind. Die jungen Leute sind zwar zum Teil schon in der dritten Generation Franzosen, aber erkennbar keine „Gallier“, wie die Franzosen sagen, wenn sie von ihren Vorfahren sprechen. Viele sind nicht in das Schulsystem integriert, sind Schulabbrecher und sind auch nicht in das soziale System aufgenommen worden. Wenn man Raschid heißt oder Mahmadou und irgendwo anruft, dann ist die Tür schon zu.
tagesschau.de: Welche Rolle spielen die Satellitenstädte?
Wickert: Die Franzosen haben in den sechziger und siebziger Jahren einen grundlegenden Fehler gemacht, als sie begannen Sozialbauten zu errichten. Da zeigt sich, dass Zentralismus auch zu großen Fehlern führen kann. Man hat es für modern gehalten, Hochhaussilos für zehntausende Menschen außerhalb der Städte zu bauen, weil dort Platz war. Man hat die sozial Schwachen dorthin geschickt – zuerst kam die französische Arbeiterklasse, dann aber kamen immer mehr Zuwanderer hinzu. So entstand eine Ghettobildung, die dazu führte, dass diese jungen Leute keine Chance mehr sahen, in die normale Welt herauszukommen. Schon Anfang der achtziger Jahre gab es in Lyon die ersten Aufstände mit ähnlichen Effekten wie jetzt. Damals hat die Regierung unter Francois Mitterand zahlreiche Reformen beschlossen, aber die Ghettos nicht abgeschafft.
Zorn gegen gescheiterte Institutionen
tagesschau.de: Schlechte Schulbildung, keine Jobs – haben die Zuwanderer und ihre Nachkommen das französische Ideal der Gleichheit und Brüderlichkeit überhaupt kennengelernt?
Wickert: Das Problem ist, dass gerade die Nachwachsenden nicht aufgenommen werden. Wenn Sie Geld besitzen oder Kulturschaffender sind, werden Sie sofort aufgenommen. Kultur gilt in Frankreich mehr noch als Geld. Wer die Kultur nicht beherrscht, weil er in der Schule gescheitert ist, wird gesellschaftlich und wirtschaftlich nicht integriert. Es ist ja interessant, wogegen sich der Zorn der jungen Leute richtet: gegen die Kindergärten und Schulen - also gegen die Institutionen, in denen sie selber versagt haben oder die ihnen nicht zur Integration verholfen haben. Und dann geht es natürlich gegen die Polizei als Repräsentanten des Staates.
tagesschau.de: Die Linke in Frankreich wirft Innenminister Sarkozy vor, mit seiner Politik der harten Hand gescheitert zu sein. Die Konservativen halten die Förderprogramme der Sozialisten auch für wirkungslos....
Wickert: Sarkozy fordert, dass das Recht durchgesetzt wird. Ob das aber reicht, ist zu bezweifeln. Städte wie Bordeaux haben große Sozialprogramme, und dort gab es kaum Unruhen. Wo die Kinder und Jugendlichen in den Ghettos beschäftigt werden, wo es Jugendzentren gibt, da fällt der Aufruhr geringer aus. Viele Programme wurden ja abgeschafft, auch weil Sarkozy meinte, Polizisten sollten Recht und Ordnung durchsetzen und nicht als Sozialarbeiter tätig sein.
tagesschau.de: Ist damit das nächste Aufflammen der Gewalt nicht vorsehbar?
Wickert: Die französische Gesellschaft muss sich die Frage stellen, wie sie Zuwanderer integrieren will. Soziologen fragen, ob sich die Gesellschaft nicht stark verändert hat, indem sie die Frage der Brüderlichkeit vernachlässigt und nur noch in ökonomischen Kategorien gedacht hat. Das ist sicher richtig. Selbst die sozialistischen Regierungen haben nichts getan, um etwas in der Gesellschaft grundsätzlich zu ändern und die Integration zu fördern. Das heißt vor allem, mehr Geld für die Schulen auszugeben – was wir in Deutschland auch müssen.
"Das Fanal ist entscheidend"
tagesschau.de: Täuscht der Eindruck, dass einige Jugendliche mitmachen, weil es eine Art Gruppenzwang gibt und Randale ihnen auch endlich einmal Aufmerksamkeit verschafft?
Wickert: In den Ghettos werden die Mädchen streng erzogen und die Jungens können machen, was sie wollen. Zu Hause sind sie brav, aber auf der Straße kommt der Gruppendruck. Wer sich nicht traut, einen Molotow-Cocktail zu werfen, fällt aus der Gruppe raus. Erstaunlich ist ja, dass die Randalierer gar nicht darauf achteten, wessen Eigentum, wessen Autos sie abbrannten. Hauptsache, ein Auto brannte. Auch die Freunde der Randalierer akzeptieren, dass die Gewalt sich gegen sie richten kann. Sie haben keinen Sinn für die eigenen Sachen, weil sie gar nichts haben. Das Fanal ist entscheidend. Es ist nicht schlimm, wenn die wenigen eigenen Dinge dabei zerstört werden – wichtiger ist die Aktion. Und das ist eine große Trostlosigkeit.
tagesschau.de: Andererseits gibt es in den Ghettos Bürger, die sich gegen die Randalierer stellen und versuchen, sie zu mäßigen. Ist das wenigstens ein kleines Zeichen der Hoffnung?
Wickert: Das ist ein Zeichen der Gemeinschaft und das zeigt, dass es kein kultureller Konflikt ist. Die Kirche spielt hier ja auch keine Rolle. Auch die Imame werden abgelehnt als Teil des Systems. Die „Großen Brüder“ und die Väter müssen es machen. Ihr Einfluss ist allerdings beschränkt. Er wirkt vielleicht auf den Einzelnen, aber nicht auf die Gruppe. Die ist immer stärker als die Brüder oder Väter.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de