Terrorexperte Posch im Interview "Al Kaida ist ein Franchise-Unternehmen"
Mit den neuen Al-Kaida-Splittergruppen, die sich zum Anschlag in London bekannt haben, ist nach Ansicht von Walter Posch "eine Saat aufgegangen, die bereits vor Jahren gesät worden ist". Der Terrorexperte am Europäischen Institut für Sicherheitsstudien warnte gleichzeitig davor, einen logischen Zusammenhang zwischen den Anschlägen von Istanbul, Madrid und London zu ziehen. Die jüngste Attacke habe nur eines ganz sicher gezeigt: Die Terroristen, die in Europa operieren, sind unberechenbar.
tagesschau.de: Zu den Anschlägen in London hat sich eine Splittergruppe des Terrornetzwerks Al Kaida bekannt. Beginnt mit diesen Untergruppen eine neue Dimension des Terrors?
Walter Posch: Der ganze Komplex Al Kaida ist mittlerweile wie ein Markenname oder ein Franchise-Unternehmen. Es hat 1998 eine Plattform gegeben mit den wichtigsten Leuten der Terrororganisationen oder Widerstandsbewegungen Südasiens, die die Kriegserklärung gegen die USA mit unterschrieben haben. Diese konnte man bis vor kurzem als Al Kaida im weiteren Sinn bezeichnen. Inzwischen haben sich Leute, die in den Lagern der "alten" Al Kaida ausgebildet worden sind, aber nicht unbedingt zur Bin-Laden-Truppe gehören, irgendwo in der Welt selbstständig gemacht. Sie haben existierende Gruppen transformiert – wie etwa in Instanbul oder in Djerba. Al Kaida hat zwar mit den grausamen Anschlägen des 11.9. auf sich aufmerksam gemacht, aber in Wirklichkeit greift das Phänomen viel tiefer: Da geht wahrscheinlich erst eine Saat auf, die vor Jahren gesät worden ist.
tagesschau.de: Kann man aus den jüngsten Anschlägen ein Muster herauslesen? Sowohl in Istanbul als auch in Madrid und London richteten sich die Anschläge gegen "weiche“ Ziele am Rande von Weltereignissen.
"Kalender der Terroristen kann man nicht nachvollziehen"
Posch: Natürlich versuchen wir, in diese grausamen Anschläge eine Logik hineinzulesen. Aber ob diese auch die Logik der Terroristen ist, möchte ich bezweifeln. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir den "Kalender“ der Terroristen beim besten Willen nicht nachvollziehen.
tagesschau.de: In Deutschland herrschte lange Zeit ein subjektives Sicherheitsgefühl, weil sich das Land nicht am Irak-Krieg beteiligte. Ist dieses Gefühl berechtigt?
Posch: Ich glaube nicht, dass diese Leute in ihrem Weltbild differenzieren zwischen den verschiedenen westlichen Staaten. Sie scheinen eher dort zuzuschlagen, wo sie die Möglichkeit wittern und wo es für sie prestigeträchtig erscheint. Ich glaube auch nicht, dass sich gerade diese Splittergruppen von politischem Verhalten beeindrucken lassen. Man muss einfach davon ausgehen, dass sie gefährlich und unberechenbar sind.
tagesschau.de: Wie viel Sicherheit kann es überhaupt geben in Europa?
Posch: Ich glaube, Vieles, was an Sicherheit geleistet wird, wird gar nicht gesehen und kann auch nicht gesehen werden. Das Zusammenwachsen Europas im Bereich der Terrorbekämpfung hat ja schon vor dem 11.9. begonnen und verbessert sich zusehends – da geht es um Informationsaustausch, um Vertrauensbildung, um Herstellung von Kontakten. Man muss nur eines sehen: Europa ist kein Föderalstaat und der eigentliche Kampf gegen den Terrorismus wird national vor Ort geführt. 100-prozentige Sicherheit wird es nie geben. Aber ich glaube, wenn man aktiv ist, kann man den europäischen Bürgern den größtmöglichen Schutz angedeihen lassen.
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"Bin Ladens Leute fielen nicht auf"
tagesschau.de: Ist Europa durch seine offenen Grenzen besonders gefährdet für länderübergreifende terroristische Operationen?
Posch: Terroristen lassen sich bei ihrer Einreise grundsätzlich nicht von Grenzen beeindrucken. Was wussten wir von Bin Ladens Leuten, die nach Europa oder Amerika gingen? Die fielen nicht auf, die hielten sich zurück. Man darf nicht unterschätzen, dass diese Menschen permanent daran denken, eben nicht auf unseren "Radarschirmen“ aufzutauchen. Und deshalb mit Leuten operieren, die eben keinen kriminellen oder islamistischen Hintergrund haben.
tagesschau.de: Was steht für den europäischen Anti-Terrorkampf nun an erster Stelle?
Posch: Die eingeleiteten Kooperations- und Informationsschritte werden sicher weiter intensiviert. Das beginnt beim Informationsaustausch und gemeinsamen Übungen. Auch die Analysefähigkeiten werden immer besser. Wir wissen jetzt weit mehr über dieses diffuse und immer diffuser werdende Netzwerk Al Kaida als noch vor einigen Jahren.
Die Fragen stellte Carolin Ströbele, tagesschau.de