Interview zur Entwicklung Pakistans und Indiens "Ein merkwürdig ambivalentes Land"
Pakistan und Indien begehen dieser Tage den 60. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit. Der Politikwissenschaftler Christian Wagner sagt im Gespräch mit tagesschau.de, Pakistan habe mehrere Geburtsfehler, die bis heute wirkten. Etwa, dass es als Staat für die Muslime gegründet wurde. Aber auch Indien habe Riesenprobleme.
Indien und sein Nachbar Pakistan begehen dieser Tage ihre Unabhängigkeitstage. Während Indien vor allem als Wirtschaftsraum mit beeindruckenden Wachstumsraten wahrgenommen wird, gilt Pakistan als sehr rückschrittlich. Es rückte zuletzt auf Platz neun der Charts "gescheiterter Staaten" des US-Außenpolitikmagazins "Foreign Policy" vor.
Christian Wagner von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin erklärt im Gespräch mit tagesschau.de, warum die Staaten seit ihrer Unabhängigkeit vor 60 Jahren so unterschiedliche Wege nahmen - und wie Pakistan den Anschluss an die Entwicklung Indiens finden könnte.
tagesschau.de: Herr Wagner, warum haben sich die beiden Länder so unterschiedlich entwickelt?
Christian Wagner: Eine Ursache für die unterschiedliche Entwicklung ist das Verhältnis von Staat und Religion. Pakistan ist als Staat für die Muslime gegründet worden. Indien hat es abgelehnt, sich etwa als Staat für die Hindus zu gründen. Ein weiterer Grund ist das Verhältnis von Staat und Militär: In Indien haben die Parteien die politische Entwicklung getragen, das Militär untersteht klar der gewählten Regierung. In Pakistan hat sich seit den 50er Jahren das Militär als politische Kraft etabliert, sodass die ersten freien Wahlen erst 1970 stattgefunden haben.
tagesschau.de: Indien gilt inzwischen als "erstaunlichste Demokratie der Welt", und das ist überwiegend positiv gemeint. Wie kann Pakistan da anknüpfen?
Wagner: Das ist schwierig geworden. Indien hat den großen Vorteil, dass keine Gruppe dominiert, es sich also politisch eigentlich um eine Minderheitengesellschaft handelt. Das war in Pakistan anders: Dort war die Mehrheit anfangs in Ostpakistan ...
tagesschau.de: ... das heutige Bangladesch ...
Wagner: ... die allerdings keine politische Mitsprache erhalten hat. Im heutigen Pakistan dominiert die Voksgruppe der Punjabis, was immer wieder zu Spannungen mit den anderen Bevölkerungsgruppen führt. Der erste Schritt wäre eine dauerhafte Demokratisierung mit fairen und freien Wahlen. Als zweites müsste der Einfluss des Militärs zurück gedrängt werden. Und schließlich müsste das Verhältnis Staat und Religion zugunsten der liberalen Vorstellungen von Staatsgründer Jinnah umgesetzt werden. Pakistan bliebe ein Staat für die Muslime, aber die Religion wäre nicht mehr so dominant in der Politik.
Armee setzt auf Vorbild Türkei
tagesschau.de: Welches Land könnte dafür als Vorbild dienen?
Wagner: Die pakistanische Militärführung bezieht sich immer wieder auf die Türkei, auch in ihrer Begründung für die wiederholte Intervention der Armee. Meiner Ansicht nach gibt es keine wirklichen Beispiele, an denen sich Pakistan orientieren könnte. Außer Bangladesch, das frühere Ost-Pakistan. Allerdings hat man dort auch nur eine relativ homogene Bevölkerungsgruppe mit nur einer Sprache und einer Religion: die Bangladeschis.
tagesschau.de: Pakistan ist dagegen sehr heterogen ...
Wagner: ... und die kleinen Bevölkerungsgruppen fühlen sich eigentlich immer von den Punjabis dominiert. Momentan gibt es einen eher unbeachteten Aufstand in Balutschistan, das liegt an der Südwestgrenze zum Iran. Die Geschichte Pakistans ist geprägt von diesen Aufständen, die immer mit der Abgrenzung zu den Punjabis zu tun hatten.
tagesschau.de: Ein Stamm, über den wir momentan viel hören, sind die Paschtunen ...
Wagner: Das ist eine weitere Besonderheit: Mitten durch das Stammesgebiet der Paschtunen verläuft die Grenze zu Afghanistan. Und diese Stämme sind auch nie wirklich in Pakistan integriert worden. Die Folgen sehen wir heute: Das Militär versucht die Kontrolle in dem Gebiet zu erlangen, um die islamistischen, meist ausländischen Kämpfer zu vertreiben.
"Vielleicht lässt sich Muscharraf auf Deal ein"
tagesschau.de: Immer wieder erwähnen wir das Militär. An seiner Spitze steht Präsident Muscharraf, der zugleich oberster General ist. Kann man mit ihm überhaupt eine dauerhafte Demokratisierung erreichen?
Wagner: Wahrscheinlich geht es in dieser Konstellation nicht. Es wäre aber möglich, dass sich Muscharraf auf einen Deal einlässt, bei dem er wiedergewählt wird und danach seine Rolle als oberster Militär ablegt. Das wäre die wichtigste Bedingung der Opposition an Muscharraf.
tagesschau.de: Wie soll das genau ablaufen und wer kann Muscharraf nachfolgen?
Wagner: Momentan ist das noch unklar. An dem Deal beteiligt wäre vermutlich die frühere Premierministerin Benazir Bhutto. Es wäre denkbar, dass sich Muscharraf vom gegenwärtigen Parlament als Präsident bestätigen lassen würde, danach ein neues Parlament wählen lässt und sich in einem letzten Schritt die Macht als Präsident oder Militärchef abgibt.
"Foreign Policy" fällt hartes Urteil
tagesschau.de: "Foreign Policy" zählt Pakistan zu den "Gescheiterten oder Versager-Staaten", sieht das Land auf Platz neun. Nur acht Länder erscheinen dem US-Außenpolitikfachblatt in einem noch bedrohlicheren Zustand - und keines davon besitzt Atomwaffen. Wie schätzen Sie die Gefahr ein, die von einem "failed State" Pakistan ausgeht, gerade mit Blick auf die Atomwaffen?
Wagner: Pakistan ist in dieser Beziehung ein merkwürdig ambivalentes Land. Die Tatsache, dass sich das Militär zu einem Staat im Staat entwickelt hat, garantiert die Sicherheit der Nuklearwaffen. Auch vor einem Zugriff durch Islamisten.
Bei der Diskussion über die Islamisten wird oft übersehen, dass es sich nur um eine kleine Gruppe handelt, die parteipolitisch nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung umfasst. Die pakistanische Gesellschaft wird politisch weiter durch die Punjabi und den Sindhis geprägt, islamistische Extremisten fänden dort keine Mehrheit.
"Erfolgsmodell" in Asien
tagesschau.de: Abgesehen vom Politischen - was muss gesellschaftlich passieren, damit Pakistan sein Potenzial entfaltet ?
Wagner: Pakistan erlebt seit vielen Jahren eine rasante wirtschaftliche Entwicklung. Die Wachstumsraten sind aktuell bei knapp zehn Prozent, damit gehört das Land im asiatischen Raum zu den "Erfolgsmodellen". Aber diese Entwicklung erreicht noch nicht die breite Mehrheit. Die Folge: Die Lebenserwartung bei der Geburt bleibt niedrig, Zugang zu Bildung und sauberem Wasser sind weiter ein Problem.
tagesschau.de: Und die Unterdrückung der Frauen?
Wagner: Pakistan hat noch nicht geschafft, seinen Frauen eine Mitsprache zu gewähren, wie das beispielsweise in Indien der Fall ist. Die Diskussion darüber hält in Pakistan an. Das Land diskutiert heute über dieselbe Frage wie zu seiner Gründung vor 60 Jahren: Welche Rolle soll die Religion spielen, und damit verbunden ist natürlich auch die Rolle der Frauen.
Auch Indien hat Riesenaufgaben zu lösen
tagesschau.de: Indien scheint in vielerlei Hinsicht mit Riesenschritten vorangegangen zu sein. Seine Wirtschaftskraft fasziniert und ängstigt schon fast wie die der Chinesen. Dennoch - 400 Millionen Inder sollen bettelarme Bauern sein. Wie rosig ist denn die wirtschaftliche Entwicklung in Indien tatsächlich?
Wagner: Die indische Union hat den Vorteil, dass sie sich inzwischen zu einem Wachstumsmotor der Weltwirtschaft entwickelt hat. Allerdings gibt es in Indien eine große Diskussion darüber, dass das Wachstum mehr an die ärmeren Schichten verteilt werden muss. 400 Millionen Inder sind Analphabeten. Und 60 Prozent der Inder leben von der Landwirtschaft. Die wichtigste Aufgabe ist es, den ländlichen Raum zu entwickeln. Das haben seit der Unabhängigkeit alle Regierungen versucht; sie haben aber bislang keine nachhaltigen Erfolge erzielt.
tagesschau.de: Ist es in Indien eigentlich egal, wer regiert?
Wagner: Im Grunde gibt es einen parteiübergreifenden Konsens darüber, dass die Wirtschaftsreformen weitergehen. Nur beim Tempo gibt es unterschiedliche Ansichten. Die gegenwärtige Minderheitsregierung kann ihre Reformen nur in mühsamen Verhandlungen mit den anderen Parteien im Parlament durchsetzen, muss sich unter anderem mit den Kommunisten abstimmen.
tagesschau.de: Wie ist die Kaschmirfrage zu lösen?
Wagner: Indien und Pakistan haben heute ein so gutes Verhältnis wie nie zuvor. Seit 2003 gibt es eine Annäherung, in deren Zug Reise- und Handelsbeschränkungen gelockert wurden. Das sind vertrauensbildende Maßnahmen, die zur Folge haben, dass inzwischen sogar das Kaschmirproblem lösbar erscheint - etwa durch eine Demilitarisierung sowie eine gemeinsame Verwaltung der Provinz. Damit verbunden wäre eine größere regionale Autonomie der Kaschmiris auf beiden Seiten der "Kontrollinie" zwischen dem indischen und dem pakistanischen Teil Kaschmirs.
Das Gespräch führte Christian Radler, tagesschau.de