Interview zu Alexej Nawalny Schlüsselfigur ohne Festlegungen
Als Kämpfer gegen Korruption machte sich Nawalny in Russland einen Namen. Hinter diesem Engagement, sagt die Russlandexpertin Sasse, können sich viele versammeln. Zugleich vermeidet Nawalny kritische Festlegungen - anders als früher.
tagesschau.de: Alexey Nawalny ist der im Ausland bekannteste Kritiker des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Beschreibt dies auch seine Position in der russischen Opposition?
Gwendolyn Sasse: Ja, er ist auch ganz eindeutig in Russland die Schlüsselfigur der Opposition gegen Putin und verbindet sich eng mit einer Kampagne gegen die Korruption im jetzigen System.
tagesschau.de: Nawalny hat immer wieder aufsehenerregende Berichte über Korruption auf allen Ebenen der russischen Gesellschaft veröffentlicht. Daraus ergibt sich aber noch kein umfassendes politisches Programm. Wo verorten Sie Nawalny im politischen Spektrum?
Sasse: Er hat meines Erachtens ganz bewusst diese politische Verortung im System umgangen. Nawalny hat auch eine politische Vergangenheit: Er war Anfang der 2000er-Jahre zuerst bei Jabloko, einem eher linksliberalen Block, von dem er später ausgeschlossen wurde, weil er nationalistische Positionen vertreten hatte, die nicht mit dem Programm von Jabloko zu vereinbaren waren. Es gibt auch spätere Äußerungen von ihm zur Annexion der Krim, die er befürwortet hat. Er ist also sowohl mit seinen nationalistischen Aussagen als auch mit Aussagen zum politischen System nicht eindeutig als ein Demokrat zu verorten. Er hat sich bei der Teilnahme an der Bürgermeisterwahl in Moskau 2013, als er gegen den Willen Putins kandidierte und Zweiter hinter dem Amtsinhaber Sergej Sobjanin wurde und 2018, als er von der Präsidentschaftswahl ausgeschlossen wurde, ganz bewusst als Aktivist aufgestellt.
Er tritt nicht mit einem politisches Programm in Erscheinung, sondern durch das Thema Korruptionsbekämpfung und konkrete investigative Kampagnen, die über seine diversen Kanäle und insbesondere über einen sehr großen YouTube-Kanal laufen. Er mobilisiert durch ein landesweites Netzwerk Leute - insbesondere eine jüngere Generation. Das ist ein sehr wichtiger Faktor, macht es aber schwer, ihn innenpolitisch genau zu fassen. Er vermeidet es meines Erachtens bewusst, sich auf ein politisches Programm "nach Putin" festzulegen.
Gwendolyn Sasse ist Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien in Berlin und Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin.
Kommunikation an den Staatsmedien vorbei
tagesschau.de: Das heißt: Die Positionen, die zumindest innerhalb des liberaleren Spektrums der russischen oppositionellen Gruppen auf Kritik stießen, hat er nicht notwendigerweise aufgegeben - er vertritt sie nur nicht mehr in dem Maße öffentlich?
Sasse: Genau können wir es nicht wissen. Wenn er irgendwann eine Chance hat, neu anzutreten, und wenn es wirklich um eine Position nach der Putin-Ära geht, wird sich das herauskristallisieren. Momentan ist er vor allem durch sehr erfolgreiche Taktiken bekannt: zum einen diese Fokussierung auf ein spezifisches Thema, nämlich Korruptionsbekämpfung, das im Land breite Unterstützung findet. Zum anderen durch die Kommunikation an den Staatsmedien vorbei. Insbesondere viele Jüngere stehen diesen inzwischen kritisch gegenüber und nutzen viele webbasierte Kanäle zur Information. Und dann hat er ein landesweites Netz an Büros, die ihn unterstützen - und gerade über Moskau und Sankt Petersburg hinauszugehen, ist eine sehr wichtige Taktik. Das kann derzeit kein anderer Aktivist oder Oppositionspolitiker in diesem Maßstab.
Bei den letzten Wahlen 2018 hat er dazu aufgerufen, "klug" abzustimmen: Das hieß auch, nicht nach dem politischen Programm eines Kandidaten oder einer Kandidatin zu schauen, sondern immer für die Person zu stimmen, die lokal die besten Aussichten hat - gegen Putin oder gegen die Putin nahe Partei "Einiges Russland" Auch hier führte er weg von ganz konkreten politischen Programmen, und konzentrierte sich darauf, Putins politisches Spielfeld zu begrenzen.
Die Opposition ist schwach und zersplittert
tagesschau.de: Wenn Nawalny über so ein großes Unterstützernetz verfügt und zu klugen taktischen Abstimmungen rät, ist er auch eine einende Figur der Opposition?
Sasse: Ja, im Moment führt er insbesondere durch diese Taktik verschiedene Stränge von dem, was man als Opposition bezeichnen kann, zusammen. Da trifft dann seine Taktik auf die doch sehr diffuse Struktur der Opposition in Russland, die sich ja nicht wirklich auf eine Parteienstruktur festlegen lässt. Es gibt zwar sogenannte Oppositionsparteien, insbesondere die Kommunisten, die Partei "Gerechtes Russland" und die rechtsnationale "Liberaldemokratische Partei" des Populisten Wladimir Schirinowskyj. Sie gelten aber alle als Systemopposition: Sie treten an, ab und zu bringen sie lokal oder national Themen oder ein Programm an, das leicht abweicht von der Regierungslinie, dann aber wieder eingehegt werden kann. Sie erfüllen also eine ganz bestimmte Funktion im System. Darüber hinaus gibt es einzelne Personen und Bewegungen, die sich zum Teil auch mit Nawalny verknüpfen. Deren lose Struktur und Nawalnys Kampagne passen momentan gut zusammen.
tagesschau.de: Heißt das, dass Nawalny damit auch Schwächen der Opposition gewissermaßen überbrückt, die ohne ihn deutlich schwächer wäre?
Sasse: Auf jeden Fall. Trotz der landesweiten Struktur seines Netzwerks hängt viel von ihm als Schlüsselfigur ab, die das zusammenhält. Er überdeckt auch die Tatsache, dass es an einer wirklich verankerten parteipolitischen Opposition mangelt. Zwar hatte man in letzter Zeit etwas weniger von ihm und seiner Bewegung gehört. Aber vor der neuen Runde von Lokal- und Regionalwahlen und den Duma-Wahlen 2021 sind wir in einer Zeit, in der der Kreml wieder mehr mit ihm rechnen musste.
Das System Putin fürchtet Veränderungen
tagesschau.de: Zuletzt haben wir in der Region Chabarowsk nach der Abberufung des Gouverneurs ungewöhnlich wütende und große Proteste gegen die russische Regierung gesehen. Auch in Belarus gibt es seit Wochen Massenproteste gegen die Führung des Landes. Halten Sie einen Zusammenhang mit dem Zeitpunkt von Nawalnys mutmaßlicher Vergiftung für denkbar?
Sasse: Der Zeitpunkt ist schon bemerkenswert. Im Vorfeld der Regional- und Lokalwahlen, die jetzt im Herbst wieder an vielen verschiedenen Orten in Russland anstehen, ist es ohnehin für den Kreml opportun, Nawalny zu schwächen. Dabei lassen wir einmal dahingestellt, ob diese Art von Aktion direkt aus dem Umfeld des Kremls gesteuert wurde, und die Frage bleibt offen, ob sie zielführend ist. Aus der Binnenlogik Russlands heraus wäre ein Zusammenhang nachvollziehbar.
Aber es erscheint wahrscheinlicher, dass der jetzige Zeitpunkt auch damit zu tun hat, dass wir in Chabarowsk über mehrere Wochen große Proteste sehen, die nicht wieder richtig abklingen - und dass wir auch eine Massenmobilisierung von unten in Belarus beobachten. Zu beiden Themen hat sich Nawalny über seinen YouTube Kanal geäußert. Es spricht daraus auch die Furcht des Putin-Systems vor Veränderungen dieser Art: dass von unten her politische Forderungen nach einem Neuanfang gestellt werden.
Gefährliche Unzufriedenheit
tagesschau.de: Die Vorgänge sowohl in Chabarowsk als auch in Belarus zeigen: Wenn die Unzufriedenheit ein bestimmtes Maß erreicht, sind Proteste auch ohne klare Führungspersonen denkbar.
Sasse: Man muss mitdenken, dass in einem großen Land wie Russland die Proteste sich in den letzten Jahren verstärkt und auch verdichtet haben und eben nicht mehr nur auf Moskau oder Sankt Petersburg fokussiert sind, sie sich bisher aber noch nicht zu einer großen Bewegung verbunden haben, wie wir das jetzt in Belarus sehen. Sie sind häufig sehr lokal motiviert: gegen oder für einzelne Politiker wie in Chabarowsk, gegen Waldbrände, Stadtentwicklungsprogramme, Müllhalden - Dinge, bei denen Menschen einfordern, dass der Staat sich um sie und ihre Infrastruktur anders kümmern muss.
Diese Proteste werden zum Teil von den Teilnehmenden bewusst als apolitische Proteste bezeichnet, obwohl wir sie natürlich überhaupt nicht als apolitisch sehen würden. Sie haben bisher - bis auf vor den Stadtparlamentswahlen in Moskau 2019 und jetzt in Chabarowsk - selten explizit nach Putins Rücktritt gerufen. Das bietet natürlich ein gefährliches Potential aus Putins Perspektive.
tagesschau.de: Wenn es dann noch eine Person gibt, die sich überregional als Führungsfigur anbietet…
Sasse: Genau, an dieser Figur hängt viel. Nawalny ist und bleibt wichtig, unabhängig davon, ob und wie schnell er genesen wird - und davon, ob er jetzt im Ausland bleibt oder zurückkehrt. Von Maßnahmen wie einem Giftanschlag, auf den alle Indizien hinweisen, geht eine Symbolkraft aus. Das wird die Bewegung nicht lahmlegen, sondern kann in einer gewissen politischen Situation gerade noch mehr Sprengkraft entwickeln.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de