Hongkong-Aktivist Wong "Wir werden den Kampf fortsetzen"
Wong war Anführer der "Regenschirm-Proteste" in Hongkong. Auch der aktuellen Bewegung schloss er sich an. Im Interview erklärt er, was ihn antreibt - und äußert sich zum Vorwurf der Gewalt bei den Protesten.
Markus Pfalzgraf: Sie waren am 1. Juli zunächst bei Kundgebungen in den Straßen von Hongkong. Wie haben Sie die denkwürdigen Ereignisse danach erlebt?
Joshua Wong: Eine halbe Million Menschen haben am Marsch gegen die Unterdrückung Pekings am Jahrestag der Übergabe Hongkongs teilgenommen. Ein völlig friedlicher Protest, auch Eltern mit Kinderwagen waren dabei, um die Regierung aufzufordern, das Gesetz zurückzuziehen. Nach dem Marsch kam ich am Legislativrat an, so um 21 Uhr. Und schon war ich ganz vorne, bei den Protestierenden, die später mit Tränengas beschossen wurden.
Pfalzgraf: Und dann? Sind Sie geblieben?
Wong: Ich blieb bis Mitternacht, nachdem die Polizei Tränengas eingesetzt hat. Und obwohl ich nicht an der Besetzung des Legislativrats teilgenommen habe, habe ich gesehen, wie sich auf der Straße immer mehr Leute versammelt haben, um ihre Mitstreiter zu schützen.
"Wenn wir freie Wahlen hätten, bräuchten wir keine Märsche"
Pfalzgraf: Was denken Sie über diejenigen, die in das Gebäude eingedrungen sind? War so eine Gewalt legitim?
Wong: Es ist legitim, das Parlament zu besetzen. Denn das Gesetz wurde nur ausgesetzt, und erst im Juli kommenden Jahres würde es automatisch auslaufen. Nach dem, was Carrie Lam gesagt hat, ist es also in den kommenden zwölf Monaten nicht vom Tisch. Warum beendet die Hongkonger Regierung dieses Gesetzesverfahren nicht sofort? Stattdessen gibt es weiter die Möglichkeit, dass das Gesetz im Legislativrat wieder aktiviert werden könnte. Deshalb hat der Protest in der Parlamentskammer selbst eine gewisse Legitimität. Außerdem sind nicht alle Abgeordneten in Hongkong demokratisch gewählt. Wenn wir freie Wahlen hätten, bräuchten wir auch keine Märsche, weil freie Abgeordnete so ein Gesetz abgelehnt hätten. Natürlich wird die Gewalt der Aktivisten nicht von allen gut geheißen oder von der ganzen Bevölkerung akzeptiert. Aber ich glaube, anstatt den Protestierenden Vorwürfe zu machen, müssen wir den Druck auf die Regierung von Hongkong erhöhen.
Markus Pfalzgraf interviewt Joshua Wong.
Pfalzgraf: Aber was ist mit der Zerstörung, die die Protestierenden hinterlassen haben? Im Gebäude war alles zerstört. Ist das angemessen?
Wong: Wir müssen zugeben, dass einige Aktivisten im Gebäude ziemlich was zerstört haben. Aber sie zielten auf das Bild des Präsidenten des Legislativrats, nicht auf die Büros aller Abgeordneten. Wir können nicht erwarten, dass alle dem Verhalten aller Aktivisten zustimmen. Aber wenn wir die politische Krise lösen wollen, die von Carrie Lam verursacht wurde, dann ist es nicht hilfreich, den Aktivisten Vorwürfe zu machen.
Pfalzgraf: Sie haben Bilder gepostet von Eindringlingen, die sogar Geld für Kaltgetränke im Kühlschrank hinterlassen haben. Was wollten Sie damit sagen?
Wong: Die Regierung von Hongkong verurteilt die Protestierenden jeden Tag. Sie bezeichnen die Protestierenden als Krawallmacher. Wenn das wirklich Randalierer wären, warum sollten sie dann für die Cola aus dem Kühlschrank der Parlamentskantine bezahlen?
Pfalzgraf: Und jetzt? Wie soll es weitergehen?
Wong: Die Bewegung geht weiter. Den Erfahrungen nach werden die Menschen jede Woche auf die Straße gehen. Jetzt ist die Zeit, um die Dynamik zu nutzen und die Unterstützung der Mehrheit zu bekommen. Wir erwarten nicht, dass alle es unterstützen, ein Gebäude zu stürmen. Aber ich glaube immer noch, dass das Gesetz aufgegeben werden muss.
"Die Regierungen in Peking und Hongkong haben uns ignoriert"
Pfalzgraf: Wäre das denn der einzige Ausweg? Oder gibt es andere Wege, diese Krise in Hongkong zu lösen?
Wong: Kurzfristig muss das Gesetz weg. Außerdem muss eine Kommission mit unabhängigen Richtern eingesetzt werden, um Polizeigewalt zu untersuchen. Langfristig brauchen wir natürlich freie Wahlen. Eigentlich sollten wir die Krise innerhalb der Institutionen lösen. Aber die Hälfte der Sitze im Legislativrat werden von Peking kontrolliert. Nur die Hälfte wird direkt gewählt, die anderen sind Marionetten der Behörden in Peking. Als wir auf die Straße gegangen sind, mit 30 Prozent der Bevölkerung, hat Peking geschwiegen. Stellen Sie sich vor, in einem Land wie Deutschland würden 30 Prozent der Bevölkerung auf die Straße gehen! Dann würde die Regierung doch wohl auf die Menschen hören. Aber wenn 30 Prozent hier marschierten, haben die Regierungen in Peking und Hongkong uns immer noch ignoriert. Deshalb müssen wir alle Mittel ausprobieren. Wir werden den Kampf fortsetzen.
Demonstranten hängten im Parlament die Fahne der ehemaligen britischen Kolonie auf.
Pfalzgraf: Und wenn sie nicht zurückziehen?
Wong: Dann müssen sie den Preis bezahlen. Selbst der vorige Polizeichef hat gemeint, er würde einer Untersuchungskommission zur Polizeigewalt bei Demonstrationen zustimmen. Ich sehe keinen Grund, warum Carrie Lam die Stimme des Volkes ignorieren sollte.
Pfalzgraf: Welchen Preis sollen sie bezahlen?
Wong: Wir haben Wahlen der Bezirksräte im November. Peking wird viel mehr Sitze verlieren, als sie sich vorstellen können. Die Menschen vertrauen der Regierung nicht mehr.
Pfalzgraf: Sie haben selber auch einen Preis bezahlt, Sie waren im Gefängnis. Hat das Ihre Sicht der Dinge verändert?
Wong: Verglichen mit denjenigen, die das Gebäude gestürmt haben, und denen jetzt Gefängnisstrafen von zehn Jahren drohen, sind meine hundert Tage nur ein kleiner Preis.
Pfalzgraf: Haben Sie Angst, dass andere jetzt auch verfolgt werden für die Aktionen dieser Woche?
Wong: In den vergangenen Wochen sind ja schon Aktivisten verhaftet worden. Sobald die Bewegung vorbei ist, werden sie bestimmt belangt, das war schon bei der Regenschirm-Bewegung, bei mir so.
"Das sind keine Kompromisse"
Pfalzgraf: Wenn aber die Regierung tatsächlich nachgeben sollte, was wäre dann gewonnen? Der oder die nächste Regierungschefin wird auch wieder von der Zentralregierung bestimmt.
Wong: Auch wenn ich dafür bin, dass Carrie Lam zurücktreten sollte - der oder die nächste ist wieder eine Marionette von Peking. Deshalb ist es so wichtig, unsere kurzfristigen Forderungen nach Rückzug des Gesetzes und Untersuchungen zu erfüllen.
Pfalzgraf: Abgeordnete aus dem Peking-freundlichen Lager verweisen darauf, dass die Regierung doch schon Zugeständnisse gemacht habe.
Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam während einer Pressekonferenz.
Wong: Das sind keine Kompromisse der Regierung. Das haben Aktivisten erreicht, die den Preis dafür bezahlen müssen. Sie haben das Gebäude gestürmt, weil dort eben keine ausreichenden Zugeständnisse gemacht wurden.
Pfalzgraf: Und wie sehen Ihre Forderungen an das Ausland aus?
Wong: Die britische Regierung hat Exportlizenzen für Polizeiwaffen nach Hongkong zurückgezogen. Ich hoffe, dass Deutschland und andere europäische Länder sich ein Beispiel daran nehmen, und keine Polizeiausrüstung und Waffen mehr nach Hongkong exportieren, wo damit Menschenrechte unterdrückt werden.
Pfalzgraf: Ist die Gesellschaft der Stadt jetzt gespaltener denn je?
Wong: Ich erfahre viel Solidarität und sehr großen Konsens über unsere Ziele. Auch wenn nicht alle Menschen zustimmen werden oder alle Aktionsformen unterstützen, so müssen sie wenigstens die guten Absichten der Aktivisten und ihren Einsatz für die Zukunft von Hongkong verstehen. Warum stürmen Schüler ein Gebäude, obwohl sie zehn Jahre Gefängnis dafür fürchten müssen? Wir bewahren unsere Solidarität und unseren Kampfgeist.
Das Interview führte Markus Pfalzgraf/Mithilfe Vivien Wong (nicht verwandt).