Gesine Schwan
Interview

Gesine Schwan im Interview "Kaczynski will die Wahl manipulieren"

Stand: 17.07.2017 17:18 Uhr

Reform um Reform baut die polnische Regierung das Land um. Nun soll der Oberste Gerichtshof seine Unabhängigkeit verlieren. "Es läuft auf die Abschaffung der Demokratie hinaus," sagt Gesine Schwan im Interview mit tagesschau.de. Sie befürchtet noch Schlimmeres.

tagesschau.de: Wie gravierend sind die Änderungen, die Ende vergangener Woche auf den Weg gebracht wurden?

Gesine Schwan: Sie sind sehr gravierend, und sie sind nach einem westlichen Verständnis von Demokratie antidemokratisch. Denn dieses westliche Verständnis von Demokratie sagt zwar nicht, ob es eine präsidiale oder eine parlamentarische Demokratie geben muss. Aber es muss eine Unabhängigkeit der Justiz geben.

Dazu muss es eine Gewaltenteilung geben, und die ist schon von Anfang an von PiS, als es um den Streit ums Verfassungsgericht ging, eingeschränkt worden. Die ist bei der Medienfrage eingeschränkt worden und hier wird sie ganz gravierend eingeschränkt. Denn der Oberste Gerichtshof hat ja die anderen niedrigeren Gerichte zu kontrollieren. Dann muss man eine Stromlinienförmigkeit im Sinne der Regierungspartei erwarten. Das ist einfach überhaupt nicht mehr akzeptabel.

tagesschau.de: Die "Gazeta Wyborcza" sprach vom Ende des Rechtsstaats in Polen.

Schwan: Der Meinung bin ich auch.

Gesine Schwan
Zur Person

Gesine Schwan war von 1999 bis 2008 Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder und von 2005 bis 2009 Koordinatorin der Bundesregierung für deutsch-polnische Zusammenarbeit. Schwan war Mitglied des Kuratoriums der deutsch-polnischen Wissenschaftsstiftung.

tagesschau.de: Auf dem Weg bis hierher gab es ja schon einige Reformen, seit die PiS an der Macht ist. Wie bewerten Sie diesen Weg?

Schwan: Der Weg von PiS ist sehr eindeutig, dazu bekennt sich Jaroslaw Kaczynski auch: Er wollte von Anfang an, dass die Parlamentsmehrheit auf gar keinen Widerstand stoßen darf, bei nichts. Das war schon bei der Veränderung des Verfassungsgerichtsgesetzes so, ebenso bei der Einschränkung der Medienfreiheit und das ist jetzt auch ganz klar so.

Ich fürchte, dass mit diesem Obersten Gericht auch die Instanz pervertiert wird, die gegebenenfalls gefälschte Wahlen kontrollieren muss. Mein Eindruck ist: Es läuft auf die Abschaffung der Demokratie im rechtsstaatlichen Sinne hinaus und darauf, dass auch die Wahlen möglichst so gestaltet werden können, dass PiS nicht mehr abgewählt werden kann.

tagesschau.de: Warum legt die polnische Regierung mit diesen Veränderungen so ein Tempo vor?

Schwan: Es geht alles rasant schnell und man fragt sich wirklich: Was ist da eigentlich los? Das verweist darauf, dass eben diese ganze Entscheidungsreihe bei Jaroslaw Kaczynski - und er ist klar der Ideologe dafür - eine Konsequenz hat und dass er das auch genau kalkuliert.

Er war immer ein ganz geschickter Machttaktiker und Machtstratege. Und er möchte es schaffen, so ist jetzt mein Eindruck, dass er Schritt für Schritt - zunächst mit abstrakten Reformen in Bezug auf das Verfassungsgericht, aber nun mit immer klarer erkennbaren sogenannten Reformen - am Ende die Wahl manipulieren kann. Darauf läuft es hinaus und das muss er in dem Zeitabstand der Wahlperiode schaffen.

Durch Polen geht ein tiefer Riss

tagesschau.de: Es gab am Wochenende auch Proteste und Widerstand. Wie repräsentativ ist denn dieser Widerstand für die Stimmung im Land?

Schwan: Nach allem, was ich erfahre ist die Gesellschaft gespalten. Kaczynski hat erhebliche Anhänger und es ist immer wieder dieselbe Begründung, die die Menschen dafür vorgeben: Er hat vor allen Dingen das Familiengeld erhöht. Er hat also soziale Geschenke gemacht, und sehr vielen in Polen ist inzwischen offensichtlich die Demokratie nicht mehr so wichtig.

Ich schätze, die Verteilung der Gegner und Befürworter auf ungefähr 50-50. Denn man muss umgekehrt sagen: Bei der Wahl von Kaczynski bei einer geringen Wahlbeteiligung von etwa knapp 50 Prozent ist er nur von ungefähr 38 Prozent gewählt. Er repräsentiert also nur etwa 25 Prozent der Wahlbevölkerung. Aber seine Macht erklärt sich nicht durch Umfragen, sondern durch ein Wahlsystem und auch durch ein Parteiensystem.

Die Gesellschaft in Polen ist scharf gespalten. Das ist auch sehr beunruhigend, weil die Gegner und die Anhänger nicht mehr miteinander kommunizieren. Der Riss geht sehr tief durch das Land, vor allen Dingen geografisch. Auf dem Land und im Osten sind viel mehr PiS-Anhänger als im Westen und in den großen Städten.

Die EU kann nicht viel tun - rechtlich

tagesschau.de: Wie können oder sollen die europäischen Nachbarländer damit umgehen?

Schwan: Sie haben sehr wahrscheinlich wenig rechtliche Möglichkeiten. Denn zum Beispiel den Polen abzusprechen, dass sie im Europäischen Rat mitentscheiden können, würde - abgesehen davon, dass das Verfahren eröffnet werden muss - weiter erfordern, dass diese Entscheidung einstimmig gefällt wird. Und es ist nicht damit zu rechnen, dass Viktor Orbán, der ja eine ähnliche Strategie verfolgt, es nur etwas geschickter macht, eine solche Entscheidung mittragen würde.

tagesschau.de: Wo sollte denn die EU eine rote Linie ziehen, für Länder, die sich entwickeln wie Polen? Man hört immer wieder: Polen baut sich zu einer Diktatur um. Diktaturen können ja nicht Mitglied der Europäischen Union sein.

Schwan: Ich meine, die rote Linie muss bei der Unabhängigkeit der Gerichte sein. Und die Unabhängigkeit der Gerichte ist nicht gegeben, wenn der Justizminister die Richter nicht nur ernennt, sondern auch bestimmt. Auch in anderen Staaten gibt es Balancen zwischen Ernennungen und vorheriger Bestimmung. Aber hier will der Justizminister ja auch die Richter bestimmen.

Die gegenwärtige Oberste Richterin im Obersten Gerichtshof will nicht zurücktreten. Sie soll zum Rücktritt gezwungen werden. Das heißt, das ist nach dem neuen Gesetz die völlige Abhängigkeit des Gerichts von der Exekutive. Da ist die rote Linie in meiner Sicht klar überschritten.

Oberstes Gericht in Polen

Der Oberste Gerichtshof in Warschau: Der Innenminister soll künftig darüber entscheiden, wer hier Richter sein darf.

"EU darf nicht zu einem Klub von Diktaturen werden"

tagesschau.de: Was muss jetzt passieren?

Schwan: Ich glaube, die Europäische Union muss genaus dies sehr deutlich sagen. Sie muss dafür natürlich die Prozeduren einhalten, die sie sich gegeben hat. Und sie muss das verbal sehr klar machen und sich überlegen, welche juristischen oder finanziellen Mittel eingesetzt werden können, damit diese Europäische Union nicht unter der Hand zu einem Klub von Diktaturen wird.

tagesschau.de: Was wird als nächstes aus Polen kommen?

Schwan: Ich vermute, Kaczynski wird sich an die Wahlgesetze machen. Er wird versuchen, für die Wahl der Bürgermeister Hebel anzubringen, die es den aktuellen, sehr starken Bürgermeistern entweder nicht erlauben wieder anzutreten oder sie sogar zum Rücktritt zu zwingen. Die Frage ist natürlich, wie weit ein nationales Parlament die Wahlordnung in einer Stadt bestimmen darf. Das Nächste wird sein, dass er versucht, überall dort wo sich eine politische Gegenmacht organisiert, diese zu unterminieren und vor allen Dingen die nächsten freien Wahlen einzuschränken. Das wird sein nächster Schritt sein.

Das Interview führte Julia Schumacher, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 17. Juli 2017 um 11:00 Uhr.