Klima-Mission auf Spitzbergen Das Wolkenrätsel der Arktis
Der Klimawandel fällt in der Arktis besonders stark aus. Ein großes Forscherteam auf Spitzbergen will herausfinden, warum das so ist. Ihre Theorie: Die Wolkenbildung spielt eine zentrale Rolle.
Wissenschaft kann sich manchmal anfühlen wie eine Polarexpedition. So zumindest geht es vielen im Team der deutschen und anderen europäischen Wissenschaftler, die derzeit in Longyearbyen - dem Hauptort von Spitzbergen - ihr Camp aufgeschlagen haben. Der Ort liegt rund 3000 Kilometer nördlich von Deutschland. Schneebedeckte Berge umgeben die Siedlung. Nur ein paar Flugminuten entfernt beginnt das - noch - ewige Eis.
Bei der Mission des Teams um den Meteorologen Professor Manfred Wendisch von der Universität Leipzig geht es um nicht weniger, als einen Baustein zur Beantwortung der Frage zu liefern, warum der Klimawandel in der Arktis so viel schneller abläuft als in jeder anderen Region der Erde. Schneller als zum Beispiel auch an der Antarktis.
70 Jahre alte Flugzeuge
In diesem polaren Frühsommer sind die Wissenschaftler fast täglich mit den beiden Flugzeugen vom Typ DC-3 unterwegs. Die Maschinen des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven haben schon mehr als 70 Jahre auf dem Buckel, sind mehrfach umgebaut worden und ausgerüstet mit hochmoderner Messtechnik. "Das Beste, was es zum Fliegen in diesen Regionen gibt", mein Pilot Kirk Allen. Der Kanadier ist schon fast überall geflogen, wo es eisig kalt ist. Für ihn ist das hier Routine. Als während eines Flugs durch die dichten Wolken kurzzeitig der Höhenmesser ausfällt, zieht er die Maschine steil nach oben. Das Team drückt es in die Sitze. Einigen an Bord wird es kurz mulmig. Aber hinterher meint Allen: "Alles normal, nichts passiert."
Wenn es hinaus über das zugefrorene Nordpolarmeer geht, dann trägt jeder an Bord einen Überlebensanzug aus Neopren. Auch Notproviant ist an Bord. Außerdem Zelte, Schlafsäcke, ein Schlauchboot und sogar ein Jagdgewehr, das bei einer Landung auf dem Eis dem Schutz vor Eisbären dient. Jeder, der mitfliegt, muss vorher ein Sicherheitstraining absolvieren.
Klimawandel in Arktis besonders stark
Die rund 35 Frauen und Männer sind hier, weil sich in der Arktis der Klimawandel besonders gut beobachten lässt. Allein im Vergleich zu den Durchschnittswerten zwischen 1981 und 2010 hat sich die Arktis bis heute um ganze zwei Grad Celsius erwärmt. In der Geschichte der Erde ein fast sprunghafter Anstieg. Und fast alle Prognosen sagen: Es wird noch wärmer rund um den Nordpol. Die Messstationen in der Arktis vermelden einen Wärmerekord nach dem anderen. Der Isfjorden vor Longyearbyen - der nicht umsonst diesen Namen trägt - ist seit mehreren Jahren nicht mehr zugefroren. Sogar Fischarten wie Lachs oder Makrelen gibt es mittlerweile vor Spitzbergen. Bisher fand man diese nur in deutlich südlicheren Gewässern. Auch das Meereis geht - mit einigen Schwankungen - scheinbar unaufhaltsam zurück. Die Eisschicht über der Polkappe wird dabei immer dünner und brüchiger. In der Arktis hat die Eisfläche in den vergangenen 25 Jahren um rund die Hälfte abgenommen.
Nach jüngsten Prognosen könnte der Nordpol bereits in knapp 20 Jahren im Sommer vollständig vom Eis befreit sein. Andere Wissenschaftler gehen eher von 40 bis 50 Jahren aus. Wie auch immer: Eine eisfreie Arktis hätte enorme Auswirkungen auch auf das Klima bei uns. Denn die stabile Westwetterlage in Mitteleuropa könnte aus dem Gleichgewicht geraten. Wetterextreme wären die Folge.
Es geht ums Überleben
Die Wissenschaftler arbeiten daher an einer Überlebensfrage der Menschheit. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt das Projekt, das in der aktuellen Phase noch bis Ende 2019 läuft, mit zehn Millionen Euro. Zu dem Forschungsverbund gehören neben der Uni Leipzig auch die Universität in Bremen, die Universität zu Köln, das Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven sowie das Leibniz-Institut für Troposphärenforschung, das ebenfalls seinen Sitz in Leipzig hat.
Bei der aktuellen Kampagne, wie der Einsatz auf Spitzbergen bei den Wissenschaftlern heißt, geht es vor allem um den Einfluss der Wolkenbildung auf das Klima. "Das ist ein Gebiet, wo noch enorme wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden können", erklärt Klimaforscher Christof Luepkes vom Alfred-Wegener Institut. Um das Rätsel der Wolken zu lösen, sammeln die Wissenschaftler mit den beiden Flugzeugen, dem Forschungsschiff Polarstern und mit Hilfe von Satelliten Terabyte um Terabyte Daten. Gemessen werden unter anderem die Größe der Wassertröpfchen, die Eisbildung innerhalb einer Wolke, die Temperaturunterschiede zwischen Ober- und Unterseite, aber auch der Anteil von Schmutzpartikeln. Dazu sind die beiden Flugzeuge mit vielen hochsensiblen Messinstrumenten ausgerüstet.
"Wolke ist nicht gleich Wolke", betont Meteorologe Manfred Wendisch. "Eine Wolke über Leipzig hat eine ganz andere Wirkung als eine Wolke über der Arktis. Während die Wolken in unseren Breiten eher eine abkühlende Wirkung haben, kann es in der Arktis genau umgekehrt sein." Die Vermutung der Wissenschaftler: Die Wolken tragen zur sogenannten "arktischen Verstärkung" bei. "Artic Amplification" heißt daher auch das große internationale Forschungsprojekt, an dem das Team aus Deutschland mit ihrem Projekt "Transregio TR 172" mitarbeitet.
Bedrohlicher Kreislauf
Mit der arktischen Verstärkung ist ein Prozess gemeint, der sich in knappen Worten so beschreiben lässt: Wenn die Temperaturen - zum Beispiel durch den vermehrten CO2-Ausstoß - steigen, beginnt das Meereis zu schmelzen. Es entstehen erst sogenannte Schmelztümpel, dann bricht das Eis auf. Es bilden sich große offene Wasserflächen. Diese sorgen für zusätzliche Aufwärmung. Denn während das helle Eis die Wärmestrahlung der Sonne fast vollständig reflektiert, nimmt das dunkle Wasser die Strahlung - und damit die Wärme - sehr viel stärker auf. Ein bedrohlicher Kreislauf beginnt. Und bei diesem Prozess könnte die Wolkenbildung einen zusätzlich verstärkenden Effekt haben.
Bis zum Ende der Woche wird das Team mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Deutschland, Spanien, Finnland, Frankreich und der Ukraine noch auf Spitzbergen sein. Dann ist die sechswöchige Kampagne zu Ende. Das Equipment wird in Kisten verpackt und zum Abtransport in die Heimat fertig gemacht. Für einige der Wissenschaftler beginnt dann erst einmal der Urlaub. Für andere wartet zu Hause viel Arbeit. Denn der größte Teil des Projekts liegt noch vor dem Team. Unmengen an Daten müssen ausgewertet werden. Manfred Wendisch meint mit einem Schmunzeln: "Da steckt noch Arbeit für ganze Generationen von Doktoranden drin." Erste Zwischenergebnisse werden aber vielleicht schon in einigen Monaten veröffentlicht.