Der Weg der Flüchtlinge in die EU Die syrische Tragödie erreicht Europa
Der Bürgerkrieg in Syrien zwingt viele Menschen zur Flucht - und die endet oft nicht mehr in der Türkei. Nach Recherchen des ARD-Magazins Panorama wagen ganze Familien die Überfahrt nach Griechenland. Nass und ausgezehrt wollen sie weiterreisen - doch in der EU gelten sie als "illegale Migranten".
Von Stefan Buchen, NDR, Redaktion Panorama
Sein Glück ist, dass er etwas von Motoren versteht. Sonst wäre er von der Küstenwache abgefangen worden oder an Unterkühlung gestorben oder ertrunken. Muhannad ist vor drei Stunden an einem Strand auf der griechischen Ägäis-Insel Lesbos gelandet, in einem Schlauchboot voller Flüchtlinge aus Syrien. Er schaut auf das Meer zurück und nimmt einen Zug an der Zigarette.
Während der nächtlichen Fahrt vom türkischen Festland war der Außenbordmotor verstummt. Das Boot mit 30 Frauen, Kindern und Männern trieb richtungslos in der Dunkelheit. Die Mittelmeerwellen schlugen über Bord. Der 15-jährige Steuermann, den die Schlepper für die geheime Mission ausgewählt hatten, wusste nicht mehr weiter. Da sprang Muhannad beherzt in die herbstlich-kalten Fluten, schraubte an den Ventilen, im Licht der Sterne. "Wie ich's geschafft habe, weiß ich nicht mehr. Irgendwie habe ich den Motor repariert und wieder zum Laufen gebracht", sagt Muhannad in einem Ton, der die Müdigkeit transzendiert hat.
"Soll ich helfen, mein Land zu zerstören?"
Der 30-jährige hagere Mann war in Syrien Lastwagenfahrer. Zuerst loderten die Flammen über seinem Truck, dann über dem Haus seiner Familie in Aleppo im Norden Syriens, beide getroffen von Artilleriegeschossen. Dann bekam er den Einzugsbefehl von der syrischen Armee. Als Reservist sollte er den Regierungstruppen helfen, den Aufstand niederzuschlagen - das war für ihn das Signal zur Flucht. "Soll ich helfen, mein Land zu zerstören?", fragt er rhetorisch.
Am Morgen kommen die Flüchtlinge die Küstenstraße hinauf
An der Küste von Lesbos kann man die syrische Tragödie studieren. Immer mehr Flüchtlinge aus Syrien kommen hier an. Das hat das ARD-Politikmagazin Panorama bei einer Recherche auf der Insel herausgefunden. Wer in den frühen Morgenstunden die Küstenstraße von der Inselhauptstadt Mytilene Richtung Norden fährt, dem kommen derzeit regelmäßig müde, ausgezehrte Männer, Frauen und Kinder zu Fuß entgegen. Sie haben in der Nacht mit meist untauglichen Booten die Überfahrt vom türkischen Festland gewagt. Die provisorischen Zeltlager in Syriens Nachbarländern reichen nicht mehr aus, um diese gigantische Menschheitskatastrophe aufzufangen. Millionen Syrer mussten wegen des Krieges ihre Häuser verlassen. In steigender Zahl suchen die Flüchtlinge nun Schutz in Europa.
Die Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland ist kaum noch passierbar. Auf Betreiben der EU, nicht zuletzt Deutschlands, hat die griechische Regierung diese Grenze mit zusätzlichen Polizisten und einem Zaun befestigt. "Jede Möglichkeit, die Grenze sicherer zu machen, muss man begrüßen", meint Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich. Es besteht kein Zweifel, dass mit "sicherer" "undurchlässiger" gemeint ist.
Deshalb wählen die Flüchtlinge jetzt die lebensgefährliche Route über das Mittelmeer. Anfang September ertranken 61 Menschen, die meisten von ihnen Kinder, als ein Boot mit Ziel Lesbos auf Grund ging. Die Opfer waren fast alle Syrer. Mehr als 50 Prozent aller Flüchtlinge, die Lesbos seit August erreicht haben, stammen laut Statistik der lokalen Behörden aus Syrien.
Für Friedrich sind sie "illegale Migranten", die man besser an der Grenzüberschreitung auf See gehindert hätte. Deutschland will keine syrischen Kriegsflüchtlinge aufnehmen. "Wir konzentrieren uns auf humanitäre Hilfe in der Region", heißt es aus dem Innenministerium. Dabei plädiert sogar der CDU-Abgeordnete Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, für die Aufnahme syrischer Flüchtlinge in Deutschland.
"Das syrische Volk ist zur Handelsware verkommen"
Muhannad will weiter nach Deutschland. Dort hat er einen Onkel und zwei Schwestern. Aber um dort hinzukommen, wird er wieder einen Schlepper finden müssen. 2000 Euro hat er schon für die lebensgefährliche Überfahrt vom türkischen Festland nach Lesbos bezahlt. Von Griechenland nach Deutschland wird es wohl noch teurer. Er sagt: "Das syrische Volk ist zur Handelsware verkommen."
Mit zwei Weggefährten sitzt Muhannad erschöpft am Strand. Den einen zieht es nach Norwegen, wo er schon einmal ein paar Jahre gearbeitet hat. Der andere, Husein, will in Griechenland bleiben, weil er hier Verwandte hat. Über dem rechten Auge trägt Husein eine weiße Klappe. "Ich habe das Auge bei einem Granatenangriff auf unser Viertel in Aleppo verloren", erzählt er.
Neben den drei ausgelaugten Gestalten türmt sich ein Haufen nasser Kleider. Ins Auge stechen die knallgelben Hosen und rosaroten T-Shirts kleiner Kinder. "Als wir ankamen, waren alle pitschnass", erzählt Muhannad. "Die Sachen waren zu schwer zum Tragen. Deshalb haben sie die Kleider einfach hier gelassen." Die Familien mit den Kindern seien kurz nach der Landung weitergezogen.
Der Bäckerladen ist jetzt ein Gefängnis
Weit gekommen sind sie erst einmal nicht. Im nächsten Dorf parkt ein Polizeiauto neben einem Bäckerladen. Den haben die Sicherheitskräfte in ein provisorisches Gefängnis umfunktioniert. "Sie sind Gefangene", weist uns ein griechischer Polizist ab. "Nirgendwo auf der Welt dürfen Journalisten einfach mit Gefangenen sprechen." Durch die Glastür der Bäckerei sind zwei kleine Jungen und zwei dunkelhaarige Frauen zu erkennen. Eine blonde Frau redet auf die Flüchtlingsfamilien aus Syrien ein. Die Österreicherin ist Beamtin der EU-Grenzschutzagentur "Frontex". Sie hat auf Lesbos die Federführung bei der Behandlung von Flüchtlingen als "illegale Migranten".
Aber was passiert mit den Festgenommenen? Polizeitransporter werden die Familien aus Syrien in Gewahrsamszellen des Polizeihauptquartiers von Lesbos in Mytilene bringen. Dort werden sie eine unbestimmte Zeit, irgendwas zwischen einem Tag und einem Monat, hinter Gittern verbringen. Dann werden sie ein Papier bekommen, auf dem steht, dass sie bei der illegalen Einreise erwischt wurden und dass sie Griechenland innerhalb von 30 Tagen wieder verlassen müssen. Frontex und Bundesinnenminister Friedrich würden die Flüchtlinge am liebsten wieder in die Türkei zurückschicken. Aber die kooperiert nicht wie gewünscht. So bleibt die EU nolens volens auf den Illegalen sitzen. Und Deutschland versucht mit Grenzbeamten an griechischen Flughäfen, ihre Weiterreise zu verhindern.
Fährticket zum dreifachen Preis
Muhannad und seine beiden Weggefährten sind noch nicht festgenommen worden. Die griechische Polizei sucht nicht permanent jeden Quadratmeter der Insel nach Neuankömmlingen ab, zumal die Gewahrsamszellen ohnehin schon überfüllt sind. Die drei haben es mit dem Bus bis Mytilene geschafft. Sie wollen gern Festnahme und tagelanges Warten hinter Gittern auf das "Transitpapier" umgehen und direkt auf ein Schiff Richtung Athen. Am Kai von Mytilene zeigt Muhannad sein Fährticket, das einen anderen Namen trägt als seinen. Er hat es zum dreifachen Preis erstanden. Im Hintergrund ertönen die Signalhörner der Fähre nach Athen, die in einer Stunde ablegen wird.
Die drei Syrer gehen zur riesigen Heckklappe, die geöffnet ist wie das Maul eines Wals, um Lastwagen und Passagiere aufzunehmen. Sie werden von uniformierten Fahrscheinkontrolleuren aufgehalten. Eine Diskussion entspinnt sich, wildes Gestikulieren. Husein deutet auf seine Augenklappe. Am Ende nützt es nichts. Die drei kommen wieder zurück zur Kaimauer. "Sie haben uns nicht auf das Schiff gelassen. Wir brauchen das Papier von der Polizei", erklärt Muhannad enttäuscht. Es wird dunkel. "Diese Nacht werden wir im Freien schlafen, und morgen ergeben wir uns der Polizei."