Der Weg nach Westen führte über den Osten Die Botschaftsflüchtlinge von Warschau
Alle schauen wieder nach Prag, auch 25 Jahre später - Genschers berühmt kurze Rede vom Balkon der Botschaft der Bundesrepublik. Aber wie sah die Situation in Polen aus und speziell in der deutschen Botschaft in Warschau? Fast paradox scheint es: Doch der Weg nach Westen führte tatsächlich für Tausende DDR-Flüchtlinge über den Osten.
Eine Menschenmenge am Eingang, verlassene Trabis und Wartburgs, eine Wäscheleine im Botschaftsgarten - Ende September 1989 herrschte Ausnahmezustand in der Botschaft der Bundesrepublik in Warschau. Hunderte Menschen aus der DDR waren gekommen und täglich wurden es mehr. Sie wollten in den Westen, nie wieder zurück in die DDR.
Eigentlich war es ja unlogisch, nach Polen zu reisen, wenn man in den Westen wollte. Denn Polen lag im Osten der DDR und hatte keine direkte Grenze mit der Bundesrepublik. Doch nach den ersten Berichten über DDR-Flüchtlinge in den Botschaften von Budapest und später Prag setzte auch eine Ausreisewelle über die sogenannte Oder-Neiße-Friedensgrenze nach Polen ein. Männer, Frauen, Kinder, ganze Familien. Die Flüchtlinge hofften, dass auch die Bundesdeutsche Botschaft in Warschau für ihre Ausreise in die Bundesrepublik sorgen kann. Aber die war erst einmal überfordert.
Essen und Betten für Hunderte Flüchtlinge
Politische Verhandlungen waren schwierig, denn bis Mitte September gab es in Polen nach den ersten relativ freien Wahlen noch keine funktionierende Regierung. Und die DDR stellte sich taub. Also mussten die Botschaftsmitarbeiter erst einmal selbst dafür sorgen, dass die ankommenden Menschen ein Dach über dem Kopf hatten und etwas zu Essen bekamen. Sie brachten Kleidung von zu Hause mit, Decken und Spielzeug für die Kinder.
Eigentlich gab es Platz für 28 Menschen, doch tatsächlich lebten hier jetzt mehrere Hundert Menschen. Bald waren die Möglichkeiten der Botschaft erschöpft. Und es kamen weiter immer mehr Flüchtlinge.
Solidarność-Regierung schließt Abschiebung aus
Als dann endlich die neue polnische Regierung unter dem Solidarność-Politiker Tadeusz Mazowiecki am 13. September 1989 ihre Amtsgeschäfte übernahm, entspannte sich die Lage etwas. Polen sicherte sofort zu, keinen DDR-Flüchtling, der legal eingereist war, wieder in die DDR abzuschieben, obwohl es Verträge mit der DDR gab, die genau das forderten. Und die polnische Regierung half auch praktisch, stellte Ferienheime und Hotels zur Verfügung, in denen die Flüchtlinge untergebracht werden konnten.
Hinter den Kulissen vermittelte sie zwischen den Botschaften der DDR und der Bundesrepublik über eine Lösung des Problems. Am 30. September 1989 war es dann soweit, zeitgleich mit Außenminister Genscher in Prag verkündete sein Staatssekretär Jürgen Sudhoff in Warschau die lang ersehnte Nachricht: "Heute Nacht noch dürfen Sie in die Bundesrepublik ausreisen".
Staatssekretär fährt im Ausreisezug mit
Auch in Warschau herrschte Jubel und flossen Freudentränen. Aber auch ein bisschen Angst keimte auf, denn die Ausreise sollte per Zug erfolgen, über das Gebiet der DDR hinweg. Die Machthaber in Ostberlin wollten den Schein wahren und den Eindruck vermitteln, sie hätten freiwillig und großzügig die Ausreise genehmigt. Erst als Staatssekretär Sudhoff versicherte, er werde mit den Flüchtlingen in dem Zug mitfahren, waren alle beruhigt.
809 Männer, Frauen und Kinder stiegen am frühen Morgen des 1. Oktober 1989 am Warschauer Ostbahnhof in den Zug, der sie über Frankfurt/Oder nach Helmstedt bringen sollte. Die Menschen waren überglücklich, viele von ihnen bedankten sich überschwänglich bei den Mitarbeitern der Botschaft und vor allem bei der polnischen Regierung. Sie wussten, dass gerade deren Unterstützung etwas Besonderes war. Polen, das Land, das in der Demokratisierung schon so viel weiter war als ihre ungeliebte Heimat DDR, hatte auch hier wieder Mut und Menschlichkeit gezeigt.
Mehr Flüchtlinge, mehr Züge, dann Flüge
Doch damit war das Flüchtlingsdrama in Warschau noch nicht beendet. Denn der Zustrom an Ausreisewilligen riss nicht ab. Schon wenige Tage nach dem ersten Zug musste ein zweiter fahren und auch der konnte nicht alle Flüchtlinge mitnehmen.
Inzwischen zeigte aber auch die DDR Entgegenkommen. Ab Mitte Oktober ließ sie ihre Warschauer Botschaft Ausreisepapiere für die Flüchtlinge ausstellen, einzige Bedingung jetzt: Der Weg in den Westen durfte nicht mehr über das Territorium der DDR hinweg erfolgen. Die gewalttätigen Unruhen rund um den Bahnhof in Dresden, wo die Züge aus Prag Halt machten, sollten sich nicht wiederholen. Also wurde jetzt geflogen, denn Polen hatte keine Landesgrenze zur Bundesrepublik und die Tschechoslowakei wollte nicht auch noch die Züge voller Flüchtlinge aus Polen in ihrem Land haben.
Als am 9. November in Berlin die Mauer fiel, wurde es augenblicklich wieder ruhig in der Bundesdeutschen Botschaft in Warschau. Jetzt war der direkte Weg in die Bundesrepublik frei, niemand musste mehr in den Osten reisen, um in den Westen zu kommen. Insgesamt etwa 6000 Menschen hatten diesen Umweg gemacht. Und viele von ihnen ärgert es bis heute, dass bei Botschaftsflüchtlingen immer nur von Prag die Rede ist und Warschau vergessen wird.