AfD-Politikerin zu Covid-19 Weidels Zahlenspiele
AfD-Fraktionschefin Weidel versucht offenbar, die Gefährlichkeit der Corona-Pandemie herunterzuspielen - und beruft sich dabei auf zweifelhafte Quellen und abenteuerliche Statistik-Interpretationen.
"Schluss mit der Panik! Nur 0,09% Sterberate bei den unter 70-Jährigen! Weniger Grippetote als 2017 & 2018! Weniger Krankschreibungen als 2018 & 2019!" Das schreibt die Fraktionsvorsitzende der AfD im Bundestag, Alice Weidel, auf Facebook - und schließt daraus: "Corona ist nur ein weiterer Vorwand, um Milliardensummen aus Deutschland abzuziehen!"
In einem Tweet behauptet Weidel weiter, dass 99,85 Prozent der "Erkrankten" nicht stürben - und beruft sich, wie auch bei ihrem Facebook-Post, auf Studien des US-Forschers John Ioannidis. Diese sind schon mehrfach inhaltlich wie methodisch scharf kritisiert worden und wurden teilweise von der Realität widerlegt. Auch das neueste Papier hat in der Fachwelt heftigen Widerspruch erhalten. Ioannidis weist selbst auf die Schwächen seiner Forschungen hin und betont bereits in der Zusammenfassung der Arbeit, dass es sich bei dem Wert um einen globalen Durchschnitt handele - es gebe extreme Unterschiede in den einzelnen Ländern. So hängt die Sterblichkeit beispielsweise von Faktoren wie Alter der Bevölkerung und der medizinischen Versorgung ab. Zudem bezieht sich seine Berechnung auf die Zahl der Infizierten, nicht auf die der tatsächlich auch Erkrankten.
In den USA starben bisher insgesamt etwa 560.000 Corona-Infizierte. Das sind 0,17 Prozent - nicht jedoch der Covid-19-Erkrankten oder der Corona-Infizierten, sondern der Gesamtbevölkerung. In Deutschland sind bisher 0,09 Prozent der Bevölkerung im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben. Die Sterblichkeit bei deutschen Infizierten liegt laut Johns Hopkins University bei etwa 2,7 Prozent. Seit Mitte März steigt jedoch hier und in anderen Ländern die Zahl der Todesfälle, wie Daten des Übersterblichkeits-Forschungsprojekts EuroMomo und des Statistischen Bundesamts zeigen.
Keine Grundimmunität
Zudem sind die meisten Menschen noch ohne jeden Immunschutz gegen das neuartige Coronavirus, während es beispielsweise gegen die Influenza eine Grundimmunität gibt und ausreichend Impfstoffe für Risikogruppen. Daher gehen Fachleute davon aus, dass eine starke Verbreitung von Covid-19 zu sehr vielen weiteren schweren Verläufen führen würde - und damit auch zu einer weiter steigenden Zahl von Todesfällen. Zusätzlich würde bei einer Überlastung des Gesundheitssystems die medizinische Versorgung nicht mehr gewährleistet werden können.
Die Zahl der Corona-Patientinnen und -Patienten, die auf Intensivstationen behandelt werden, steigt derzeit wieder. Das durchschnittliche Alter der Erkrankten sinkt dabei in vielen Kliniken. Mediziner warnen, die Kapazitäten könnten bald erschöpft sein. Zuletzt appellierte der wissenschaftliche Leiter des Divi-Intensivregisters, Christian Karagiannidis, an die Politik, "endlich" zu handeln.
Offen ist, was Weidel mit der Erwähnung der Grippetoten sagen will. Wenn dieser in Bezug auf Covid-19 überhaupt etwas zeigt, dann wohl am ehesten, dass die Maßnahmen gegen Corona-Infektionen auch gegen andere Infektionskrankheiten wirken - eine Vermutung, die von Experten geteilt wird. Der Vergleich ist ohnehin problematisch, da die Grippesaison 2017/18 einen ungewöhnlich heftigen Verlauf hatte. Zudem wurden die Zahlen auf Basis der Übersterblichkeit lediglich geschätzt.
Ähnliche Gründe wie für den Rückgang der Grippewelle gelten wahrscheinlich auch für den leicht gesunkenen Krankenstand. Vollständige offizielle Statistiken für das Jahr 2020 gibt es noch nicht. Allerdings vermeldet die Techniker Krankenkasse (TK) für das Jahr einen Rückgang der Fehlzeiten ihrer versicherten Erwerbspersonen von 4,22 auf 4,13 Prozent - und erklärt dies mit den Maßnahmen gegen Corona: "Sowohl der generelle Rückgang der Krankmeldungen als auch die Abnahme von Erkältungskrankheiten lassen darauf schließen, dass die Abstands- und Hygieneregeln auch dafür sorgen, dass sich andere Infektionserreger nicht so schnell verbreiten wie vor der Pandemie", sagt TK-Chef Jens Baas.
Das Institut der deutschen Wirtschaft geht für 2020 von einer stabilen Entwicklung des Krankheitsgeschehens aus, meldet jedoch für das Frühjahr bedingt durch die Corona-Pandemie einen deutlichen Ausreißer nach oben. Auch die von Weidel als angeblichen Beleg angeführten Zahlen des Statistischen Landesamts Baden-Württemberg zeigen für April und Dezember 2020 einen massiven Anstieg der Krankenstände im Vergleich zu den Vorjahresmonaten.
Kehrtwende
Im Frühling 2020 hatten die AfD und Weidel der Regierung noch vorgeworfen, die Bedrohung durch das Virus heruntergespielt zu haben. Im Februar hatte Weidel gewarnt, in China sterben täglich 100 Menschen - und das Virus breite sich immer weiter aus. Mitte März legte die AfD ein "Fünf-Punkte-Sofortprogramm" vor, weil sich Corona "immer schneller" ausbreite. Unter anderem die AfD-Fraktion in Niedersachsen forderte, alle Großveranstaltungen abzusagen, Schulen zu schließen und die Öffentlichkeit über die Gefährlichkeit aufzuklären. Ende März hatten AfD-Politiker zudem versucht, junge Leute als rücksichtslos darzustellen, was den Schutz von Risikogruppen angehe.
Mitte April kam es dann zum internen Konflikt über die Deutung der Pandemie. Weidel wollte offenkundig weiter eine für AfD-Verhältnisse gemäßigte Kritik, doch in der Partei forderten immer mehr Stimmen eine radikale Gegenposition. Die sogenannten "Corona-Skeptiker" geben seitdem den Ton an - und die Gefahr durch Covid-19 soll offenkundig relativiert werden - durch das Herauspicken von einzelnen Daten und einseitige Interpretationen von Zahlen.