Seenotrettung Wer regelt, wie gerettet wird?
Beihilfe zur illegalen Einwanderung und Verletzung des Seerechts: "Sea-Watch 3"-Kapitänin Rackete drohen bis zu zehn Jahre Haft. Doch welche Gesetze gelten für die Seenotrettung?
Menschen, die in Seenot geraten, müssen gerettet werden. Diese Pflicht sei als Ausdruck der Menschlichkeit "tief verankert in der Jahrhunderte alten, maritimen Tradition" und gelte als Völkergewohnheitsrecht, schreibt der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags bei einer Einschätzung im Juli 2017.
Erstmals festgehalten wurde die Pflicht zur Seenorettung demnach im Jahr 1910 im Brüsseler Abkommen zur einheitlichen Feststellung von Regeln über Hilfeleistung und Bergung in Seenot. Entsprechende Vorschriften finden sich auch im Internationalen Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (SOLAS), dem Internationalen Übereinkommen über Seenotrettung und dem UN-Seerechtsübereinkommen.
Wer muss Hilfe leisten?
Zur Rettung verpflichtet sind alle Schiffe, deren Besatzungen Menschen in Seenot entdecken - nicht nur Seenotretter wie die "Sea-Watch 3". Die Pflicht gilt beispielsweise auch für Handelsschiffe. So heißt es in Artikel 98 des Seerechtsübereinkommens:
Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes, soweit der Kapitän ohne ernste Gefährdung des Schiffes, der Besatzung oder der Fahrgäste dazu imstande ist, jeder Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten.
Was bedeutet Seenot?
Wann genau Seenot vorliegt, ist rechtlich nicht genau definiert. In der Einschätzung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages heißt es, dass generell von Seenot ausgegangen werde, "wenn die begründete Annahme besteht, dass ein Schiff und die auf ihm befindlichen Personen ohne Hilfe von außen nicht in Sicherheit gelangen können und auf See verloren gehen".
Darunter falle auch, wenn Boote überbelegt oder manövrierunfähig seien, oder wenn Nahrung und Wasser fehlen. Die Beurteilung der Situation liege im Ermessen des Kapitäns. Unerheblich dafür sei es, warum die Personen in Seenot geraten sind. Die Pflicht zur Seenotrettung sei eine "unbedingte Verpflichtung".
Wohin müssen Gerettete gebracht werden?
Gerettete sollen gemäß SOLAS an einen "sicheren Ort" gebracht werden. Das muss aber nicht der nächste Hafen, sondern könne beispielsweise auch ein anderes Schiff sein, wie Nele Matz-Lück, Professorin für Öffentliches Recht mit dem Schwerpunkt Seerecht an der Universität Kiel, dem ARD-faktenfinder sagte. Genauer definiert ist der "sichere Ort" in den "Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen":
Es ist auch ein Ort, an dem das Leben der Überlebenden nicht mehr weiter in Gefahr ist und an dem ihre menschlichen Grundbedürfnisse (wie zum Beispiel Nahrung, Unterkunft und medizinische Bedürfnisse) gedeckt werden können. Es ist weiter ein Ort, von dem aus Vorkehrungen für den Transport der Überlebenden zu ihrem nächsten oder endgültigen Bestimmungsort getroffen werden können.
Für die Koordinierung der Aufnahme der Geretteten ist derjenige Staat hauptverantwortlich, in dessen "Search and Rescue"-Zone die Schiffbrüchigen aufgegriffen wurden.
Müssen die Küstenstaaten Gerettete an Land nehmen?
Die Frage, was mit den Geretteten geschehen soll, lassen die Konventionen weitgehend offen, wie der Wissenschaftliche Dienst feststellt. Es gebe gewissermaßen eine rechtliche Lücke, meint auch Matz-Lück: Zwar müssten Schiffe Gerettete in einen sicheren Hafen bringen. Die Küstenstaaten seien durch ihr Hoheitsrecht allerdings nicht automatisch verpflichtet, diese an Land zu lassen. Rechtlich möglich wäre zum Beispiel auch eine medizinische Versorgung an Bord.
Ein Recht des Kapitäns auf Zugang zu einem nationalen Hafen und eine Pflicht des Küstenstaates zum Aussteigenlassen der Geretteten bestehe grundsätzlich nicht, so der Wissenschaftliche Dienst.
Für einen Zugang zu einem Hafen könne aber mit dem sogenannten Nothafenrecht argumentiert werden. Es könne zur Anwendung kommen, wenn eine "unmittelbare und ohne fremde Hilfe unabwendbare Gefahr für das Leben von Besatzungsmitgliedern oder Passagieren droht" - beispielsweise wenn sich unter den Geretteten Schwangere und Verletzte befinden oder, wenn "die medizinische Versorgung und die Bereitstellung von Lebensmitteln bei einer hohen Zahl an Geretteten an Bord unmöglich ist".
Das Nothafenrecht sei jedoch kein absolutes Recht und könne bestimmten Einschränkungen unterliegen, insbesondere wenn die Beeinträchtigung von Interessen des Küstenstaates drohe.
Wer war für die "Sea-Watch 3" zuständig?
Normalerweise muss der jeweils zuständige Küstenstaat einen Hafen zuweisen. Im aktuellen Fall der "Sea-Watch 3" wäre das Libyen gewesen, das dann für gewöhnlich den Hafen von Tripolis angibt, wie Valentin Schatz vom Lehrstuhl für Internationales Seerecht der Universität Hamburg dem ARD-faktenfinder sagte.
Libyen gelte allerdings nicht als "sicherer Ort", eine Rückführung von Flüchtlingen nach Libyen wäre sogar rechtswidrig. Den nächstgelegenen Hafen Lampedusa anzusteuern, hält Schatz deshalb für nachvollziehbar.
Italien hätte dann einen Hafen zuweisen müssen. Frankreich reagierte nach Angaben der Seenotretter nicht auf eine Anfrage, Malta lehnte ab. Die Aussage des italienischen Innenministers Matteo Salvini, das Schiff, das unter niederländischer Flagge fährt, hätte doch in die Niederlande weiterfahren können, hält Schatz für weltfremd. Das Schiff sei nicht dazu ausgelegt und hätte selbst als Seenotfall enden können. "Das Recht liegt etwas mehr auf Seiten der NGO, aber letztlich regelt das Seevölkerrecht nicht, wie diese Situation zu lösen ist", meint Schatz.