Angeblich geplanter Lockdown Wie gezielt Gerüchte gestreut werden
Im Netz werden Gerüchte gestreut, bereits seit Wochen sei ein Lockdown geplant. Sogar der Termin stehe schon fest. Für die Behauptung gibt es keine Belege, dennoch verbreitet sie sich rasant.
Der Alltag in Deutschland und vielen anderen Staaten hat sich seit dem Ausbruch der Pandemie massiv verändert. Die sozialen und ökonomischen Konsequenzen der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus sind weiterhin kaum abzuschätzen.
Trotz dieser Auswirkungen plane die Regierung - angeblich - erneut, das öffentliche Leben wieder stillzulegen. Das wird zumindest im Netz behauptet. Sogar einen Termin gebe es schon, heißt es in YouTube-Videos - nämlich den 30. August. Der "zweite Lockdown" solle zudem länger dauern, möglicherweise drei bis sechs Monate.
In dem vermeintlichen "Sensations-Interview" wird behauptet, es sei seit Wochen ein Lockdown für Ende August geplant. Quelle sei ein anonymer Lokalpolitiker.
Hunderttausende Zugriffe
Hunderttausendfach sind diese Videos seit Ende Juli abgerufen worden. Zudem werden sie unter anderem auf Facebook in Gruppen und auf Seiten mit Namen wie "Corona Rebellen", "Unterstützer der AfD!" oder "Wir haben die Schnauze voll" geteilt. Eine Datenanalyse zeigt, dass allein eins der entsprechenden Videos mehr als 50.000 Interaktionen auf Facebook erzeugte, rund 19.000 mal wurde es geteilt.
Die Geschichte basiert auf Behauptungen eines Aktivisten, der sich zur Initiative "Querdenken" zählt. Er berichtet in einem Interview, er habe von einem Gemeindesratsmitglied aus Osthessen von den Plänen erfahren. Um wen es sich dabei handelt, wollte er nicht sagen. Der anonyme Informant habe bei einer Sitzung Mitte Juni den Bürgermeister gefragt, was in Sachen Corona noch zu erwarten sei. Darauf habe der Bürgermeister geantwortet, er habe bereits seit Längerem einen Brief von "ganz oben" vorliegen, in dem ein zweiter Lockdown für den 30. August angekündigt sei. Dieser solle länger dauern als die Maßnahmen im Frühjahr.
Langwieriger Prozess
Rückblick: Mitte März diskutieren Politik und Fachleute über die richtigen Maßnahmen angesichts der stark steigenden Zahl von Corona-Infektionen. Die Lage ist unübersichtlich; die Bundesländer ergreifen nach und nach verschiedene Maßnahmen, sagen Großveranstaltungen ab, schließen Schulen. Die Ministerpräsidenten von Bayern und NRW streiten öffentlich über angemessene Schritte. Am 22. März schließlich verkünden Bundesregierung und Landesregierungen nach Verhandlungen umfangreiche "Leitlinien": Zusammenkünfte in der Öffentlichkeit von mehr als zwei Personen werden verboten, Geschäfte müssen schließen.
Der Entschluss, das öffentliche Leben weitestgehend "herunterzufahren", war ein Prozess, der sich über mehrere Tage hinzog - und an dem die Bundesregierung, die Länder und zahlreiche weitere Expertinnen beteiligt waren. Die Einschätzungen und Vorschläge veränderten sich dabei quasi täglich, von einem fertigen Plan war die Politik angesichts der dynamischen Lage weit entfernt.
Tausende Mitwisser?
Auch Monate später verändern sich die Lage sowie der Kenntnisstand über Corona ständig. Was ist also von den Behauptungen zu halten, dass für Ende August ein Lockdown geplant sei?
Folgt man den Ausführungen in dem Video, müssten Tausende Menschen seit Wochen davon wissen - in der Kommunalpolitik, auf Landesebene und in der Bundespolitik. Angesichts der Kontroversen, die seit Monaten öffentlich über Einschränkungen und Lockerungen ausgetragen werden, erscheint es ausgeschlossen, dass niemand von diesen zahlreichen Personen die Anordnung eines Lockdowns öffentlich thematisieren würde. Ein Papier von "ganz oben", das angeblich einen Lockdown ankündigt und seit Juni selbst an Lokalpolitiker geschickt worden sein soll, wäre längst veröffentlicht worden.
Zudem müssen Maßnahmen verhältnismäßig sein und gegebenenfalls vor Gericht gegen Klagen standhalten. Dies erscheint ebenfalls ausgeschlossen, wenn ein Lockdown bereits vorab und unabhängig vom Infektionsgeschehen beschlossen worden wäre.
Weiterhin stellt sich die Frage, warum die Politik ein Interesse an solchen drastischen Einschränkungen haben sollte. Die Bundesregierung hat Milliarden von Euro bereitgestellt, um Bürger und Wirtschaft zu unterstützen. Bei einem Lockdown würden weite Teile des wirtschaftlichen Lebens mutmaßlich kollabieren.
Autoritäres Verständnis von Politik
Die Vorstellung, es gebe einen Brief von "ganz oben" mit einer Anordnung, zeugt zudem von einer autoritären sowie unrealistischen Vorstellung von politischen Entscheidungsprozessen. Die Einigung zwischen Bund und Ländern auf "Leitlinien" im März ist das beste Beispiel: Es wurden täglich neue Ideen diskutiert, die Entscheidung wurde schließlich nach langen Verhandlungen gemeinsam getroffen. Der Gedanke, die Kanzlerin könne einfach Grundrechte weitgehend einschränken und den Bundesländern Maßnahmen diktieren, hat mit der politischen und verfassungsrechtlichen Realität nichts zu tun.
Obwohl die Geschichte von einem anonymen Lokalpolitiker, der in einer Gemeinderatssitzung vom bereits geplanten Lockdown erfahren haben will, also weder plausibel noch glaubwürdig ist, wird das angebliche "Sensations-Interview" hunderttausendfach abgerufen und massenhaft geteilt. Solche gezielten Gerüchte sind offenkundig erfolgreich, weil sie an Ressentiments anknüpfen, denen zufolge die Politik die Bürger ohnehin belüge und die Bundesrepublik keine Demokratie sei. So absurd die einzelnen Behauptungen auch klingen - insbesondere in Krisenzeiten bergen solche Gerüchte die Gefahr, Menschen weiter zu verunsichern oder sogar in eine Radikalisierung zu treiben.