Eine Bundestagssitzung mit wenigen Abgeordneten (Archivbild). Zur nächtlichen Stunde ist das keine Seltenheit.

Streit über Hammelsprung Willkür im Bundestag?

Stand: 14.08.2019 05:11 Uhr

Die AfD wirft der Sitzungsleitung im Bundestag Willkür vor. Grund: ein verweigerter Hammelsprung. Geschäftsordnung und Präsidium bestätigen zwar das Vorgehen, doch die AfD will vor das Verfassungsgericht ziehen.

Von Patrick Gensing, ARD-aktuell

Die AfD-Bundestagsfraktion will vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, weil ihr Ende Juni bei einer nächtlichen Sitzung des Parlaments ein Hammelsprung verwehrt worden war. Damit wollte sie gegen 1.30 Uhr morgens die Beschlussunfähigkeit des Bundestags feststellen lassen. Die Folge wäre ein Abbruch der Sitzung kurz vor der Sommerpause gewesen.

Der AfD-Abgeordnete Jürgen Braun hatte sich laut Protokoll zu Wort gemeldet, um die Beschlussfähigkeit des Parlaments anzuzweifeln. Abgeordnete der anderen Fraktionen kommentierten daraufhin, bei der AfD würden ja auch viele Abgeordnete fehlen.

Der Sitzungsvorstand bestand zu dieser Stunde aus Vizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) sowie den beiden Schriftführern Benjamin Strasser von der FDP und Josef Oster von der CDU. Sie sahen keine Notwendigkeit für einen Hammelsprung. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble bestätigte die Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens: Das Präsidium sei "einhellig der Auffassung, dass der Sitzungsvorstand die Vorschriften der Geschäftsordnung über die Feststellung der Beschlussfähigkeit korrekt angewendet hat".

AfD spricht von Willkür

AfD-Abgeordnete warfen Roth hingegen Willkür vor. Beatrix von Storch schrieb auf Facebook, "das Bundestagspräsidium unter der Grünen Claudia Roth beging in der vergangenen Nacht völlig ungeniert und skrupellos einen klaren Rechtsbruch". Die AfD verbreitete zudem Mitschnitte und Pressemitteilungen zu dem Vorgang, die in vielen Blogs und Medien aufgegriffen wurde. Auch tagesschau.de berichtete über den nächtlichen Eklat.

Mehr als die Hälfte müssen anwesend sein

Bei einem Hammelsprung verlassen die Abgeordneten den Saal und kehren durch verschiedene Türen wieder zurück, so dass ihre Zahl exakt festgestellt werden kann. Der Begriff ist eine scherzhafte Wortschöpfung aus dem parlamentarischen Alltag der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Laut seiner Geschäftsordnung ist der Bundestag nur beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Saal anwesend sind. Allerdings: Ist sich der Sitzungsvorstand einig, dass Beschlussfähigkeit besteht, kann kein Hammelsprung stattfinden.

(1) Der Bundestag ist beschlußfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist.
(2) Wird vor Beginn einer Abstimmung die Beschlußfähigkeit von einer Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages bezweifelt und auch vom Sitzungsvorstand nicht einmütig bejaht oder wird die Beschlußfähigkeit vom Sitzungsvorstand im Einvernehmen mit den Fraktionen bezweifelt, so ist in Verbindung mit der Abstimmung die Beschlußfähigkeit durch Zählung der Stimmen nach § 51, im Laufe einer Kernzeit-Debatte im Verfahren nach § 52 festzustellen. Der Präsident kann die Abstimmung auf kurze Zeit aussetzen.

In der besagten Nacht waren nach rund 16-stündiger Sitzung nur noch etwa 100 Parlamentarier anwesend. Keine der Fraktionen war vollzählig, auch nicht die der AfD. Gerade bei langen Bundestagssitzungen ist es zu später Stunde durchaus üblich, dass der Plenarsaal relativ leer ist.

Hammelsprung als "Revanche"

Bereits im Dezember 2018 hatte die AfD einen Hammelsprung gefordert, dann aber selbst nicht daran teilgenommen. Dennoch war das Parlament beschlussfähig. Das Vorgehen der AfD sorgte bei den anderen Fraktionen für Empörung, AfD-Fraktionschef Gauland teilte mit, "mit dem Hammelsprung haben wir heute gezeigt, dass es für alle Abgeordneten im Deutschen Bundestag künftig ungemütlicher werden wird".

Im Januar 2018 hatte die AfD in einer nächtlichen Sitzung einen Hammelsprung gefordert. Gauland sprach offen von einer Revanche, weil ein AfD-Kandidat für einen Posten nicht gewählt worden war. Und dies sei nur der Anfang gewesen, so Gauland.

Viele Hammelsprünge in aktueller Wahlperiode

Einer Aufstellung des Bundestags zufolge sind die meisten Hammelsprünge vom Sitzungsvorstand angeordnet worden, weil das Ergebnis einer Abstimmung mittels Handzeichen nicht eindeutig gewesen sei.

Wahlperiode Zahl der Hammelsprünge
1990 - 1994 4
1994 - 1998 6
1998 - 2002 6
2002 - 2005 4
2005 - 2009 5
2009 - 2013 16
2013 - 2017 2
2017 - Mai 2019 11

Dass Oppositionsfraktionen mit Hilfe des Hammelsprungs prüfen lassen, ob tatsächlich eine Beschlussfähigkeit vorliegt - und so auch Abstimmungen vorerst verhindern, ist nicht neu. Die Linksfraktion hatte 2013 für Verärgerung bei den anderen Fraktionen gesorgt, als sie an einem Abend die Zahl der Abgeordneten nachzählen ließ. Da nur 268 der 620 Abgeordneten anwesend waren, wurde die Sitzung daraufhin abgebrochen. Die anderen Fraktionen sprachen von einem "Kasperletheater" oder warfen der Linken vor, "wohl ein Rad ab zu haben".

2012 waren es Abgeordnete von SPD, Grünen und Linkspartei, die sich bei einem Hammelsprung offenkundig viel Zeit ließen, ins Parlament zurückzukommen. Eine Abstimmung über das umstrittene Betreuungsgeld musste verschoben werden.

Im Jahr 1953 musste ein Hammelsprung sogar mehrfach wiederholt werden, da Abgeordnete angeblich durch die falsche Tür zurück in den Plenarsaal gegangen seien. "Der Spiegel" schrieb von einem "Florettgefecht der Fraktionsjuristen".

Gericht bestätigte Regelung

Das Bundesverfassungsgericht hatte sich bereits 1977 mit einer Klage zu der Beschlussfähigkeit beschäftigt. Die Richter bestätigten, dass das Parlament nach Artikel 40 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes befugt sei, die Voraussetzungen seiner Beschlussfähigkeit in der Geschäftsordnung zu regeln. Eine Verfassungsbeschwerde wurde abgelehnt. Im Jahr 2009 berief sich das Bundesverfassungsgericht auf die Regelung.

Nun will die AfD nach Karlsruhe ziehen. Sie sieht durch den verweigerten Hammelsprung die Rechte des Bundestags bei den anschließenden Gesetzesbeschlüssen als verletzt an. Die AfD-Fraktion will auch einstweiligen Rechtsschutz beantragen, was bei Dringlichkeit die Rechte - in diesem Fall des Bundestags - bereits vor der Entscheidung über die Klage wirksam schützen soll. Die Details zu ihrer Klage will die AfD-Fraktion heute in einer Pressekonferenz erläutern.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 14. August 2019 um 08:00 Uhr.