Zahlen zur Kriminalität Die Krux mit den Statistiken
In der Kriminalstatistik fehlen angeblich jährlich Zehntausende Fälle. Diese Behauptung hat die Polizei nun dementiert. Aber auch sonst ist bei der Interpretation der Zahlen Vorsicht geboten.
Die Diskussionen über die Entwicklung der Kriminalität in Deutschland stützt sich zumeist auf die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Doch allein in Berlin würden in dieser Statistik zehntausende Fälle fehlen, wird im Netz immer wieder behauptet. Grundlage für diese Behauptung ist unter anderem ein Bericht der "Berliner Zeitung" aus dem Februar 2018 über unbearbeitete Fälle beim Landeskriminalamt der Hauptstadt - Fälle, mit sogenannten Liegevermerken. In dem Beitrag heißt es:
Was genau sind Liegevermerke? Sie müssen immer dann geschrieben werden, wenn ein Ermittlungsverfahren länger als einen Monat nicht bearbeitet wurde. Häufigster Grund der Verzögerung: zu hohe Arbeitsbelastung. Zu einem Fall können mehrere Vermerke geschrieben werden, wenn die Bearbeitung immer wieder ins Stocken gerät. Die Folge: Im LKA stapeln sich die Akten. Und: Diese Fälle tauchen nicht in der Kriminalstatistik auf!
Tatsächlich ist die Zahl der Liegevermerke in Berlin stark angestiegen, wie aus einer Antwort des Senats hervorgeht - vor allem bei Betrugsdelikten und Fällen der organisierten Kriminalität. Missverständlich ist hingegen die Formulierung, diese Fälle würden in Statistiken nicht ausgewiesen. Denn die Fälle tauchen sehr wohl in den Statistiken auf - und zwar, wenn sie ausermittelt sind. Dies stellte die Polizei Berlin nun noch einmal klar.
Auf Twitter erklärte die Polizei, die genannten Fälle seien zwar verzögert bearbeitet worden - zum Großteil aber in der Statistik für 2017 aufgeführt.
Kein Rückschluss auf Bundesgebiet
Die Berliner Zahlen über Liegevermerke lassen sich zudem nicht einfach auf das Bundesgebiet hochrechnen. Beispielsweise im Saarland und in Schleswig-Holstein gibt es in der Verwaltung gar keine Liegevermerke, wie die Landesregierungen mitteilten.
Ein Abgeordneter in Baden-Württemberg hatte sich in einer Anfrage auf den Bericht der "Berliner Zeitung" bezogen und gefragt, ob es in dem Bundesland Fälle mit Verzögerungen gebe - und ob diese in der Statistik berücksichtigt würden. Die Landesregierung teilte mit, es würden lediglich Vorgänge erfasst, die derzeit offen sind - also noch bearbeitet werden. Die bis Jahresende erfassten Fälle würden in der PKS ausgewiesen.
In anderen Bundesländern hingegen bleiben offenbar Fälle wegen Überlastung liegen. Beispielsweise in Bremen: Der "Weser Kurier" berichtete im März von 10.000 Ermittlungsverfahren, die noch als unerledigt gelten. Grund seien fehlende Sachbearbeiter. Allerdings betreffe dies nicht Tötungsdelikte oder Sexualstraftaten, sagte ein Sprecher der Zeitung. Damit es keine Verzögerungen gibt, würden diese schweren Straftaten besonders priorisiert.
Verzerrungen möglich
Dennoch kommt es vor, dass auch schwere Gewaltdelikte erst lange nach der eigentlichen Tat in Statistiken auftauchen. Dies hat zumeist aber nichts mit Liegevermerken zu tun. Der Grund ist vielmehr, dass es sich bei der PKS um eine Ausgangsstatistik handelt. Das heißt: Die Fälle werden erst aufgeführt, wenn die Polizei ihre Ermittlungen abgeschlossen hat.
Wissenschaftler des Instituts für Kriminalwissenschaften der Universität Münster analysierten für den ARD-faktenfinder die Entwicklung der Zahl der polizeilich registrierten Opfer eines vollendeten vorsätzlichen Tötungsdeliktes (Mord und Totschlag). Diese Zahl stieg demnach im Jahr 2016 im Vergleich zum Vorjahr deutlich an: von 589 Opfern auf 876.
Germanwings-Absturz und Mordserie
Wie kommt es zu diesem starken Anstieg? Die Statistik für 2016 führt die 149 Opfer der Germanwings-Katastrophe aus dem Jahr 2015 auf (IMK-Bericht, Seite 33). Denn die komplexen Ermittlungen zu dem gezielten Absturz waren erst 2016 beendet. Dazu kamen noch 72 Opfer eines Krankenpflegers, dessen Mordserie nach und nach ausermittelt wurde.
2017 wurden dann laut PKS (Seite 68) noch einmal 87 Opfer des Krankenpflegers aufgeführt, obwohl die Taten lange zuvor verübt worden waren. Insgesamt wurden von den in der Statistik für 2017 aufgeführten Fälle mehr als 20 Prozent in vorherigen Jahren verübt. Dies zeigt, dass bei der Interpretation der Statistiken genau hingeschaut werden muss - sowohl bei einem Anstieg als auch bei einer Abnahme der Zahl der erfassten Straftaten.
Trend insgesamt deutlich rückgängig
Die Wissenschaftler der Uni Münster kommen dennoch zu dem Schluss, dass der Gesamttrend der vollendeten Tötungsdelikte seit 20 Jahren deutlich rückläufig sei: Fall- und Opferzahlen liegen heute insgesamt um rund ein Drittel niedriger als im Jahr 2000. Damals waren noch mehr als 1000 Opfer registriert worden.
Generell ist die PKS aber nur bedingt geeignet, um die Entwicklung der Kriminalität präzise zu erfassen. 2001 und 2006 hatte die damalige Bundesjustizministerin Brigitte Zypries daher bei Forschern und Experten den "Periodischen Sicherheitsbericht" in Auftrag gegeben. Noch heute gelten diese Analysen unter Fachleuten als Meilensteine bei der Abbildung der tatsächlichen Kriminalität.