Kennzahl für Epidemien Was ist der R-Wert?
Wohl kaum ein wissenschaftlicher Parameter hat die politische Diskussion zur Corona-Krise so sehr bestimmt wie der R-Wert. Doch was wird damit gemessen - und was sagt er wirklich aus?
Was soll mit dem R-Wert dargestellt werden?
Die Reproduktionszahl, auch R-Wert oder R-Zahl genannt, gibt an, wie viele Menschen eine infizierte Person in einer bestimmten Zeiteinheit im Mittel ansteckt. Liegt der Wert über 1, dann steigt die Zahl der Neuinfektionen, die Krankheit breitet sich also weiter aus. Ist sie kleiner als 1, gibt es immer weniger Neuinfektionen, die Epidemie läuft also aus.
Der R-Wert ist eine exponentieller Größe. Konkret bedeutet das, dass schon geringe Veränderungen große Auswirkungen haben. Liegt der R-Wert bei 1,1, verdoppelt sich die Zahl der Infizierten in gut sieben betrachteten Zeiteinheiten; steigt er auf 1,4, sind es nur noch gut zwei Zeiteinheiten, bis doppelt so viele Menschen infiziert sind.
Was ist die Basisreproduktionszahl?
Die Basisreproduktionszahl R0 gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter durchschnittlich ansteckt, wenn es in der gesamte Bevölkerung keine Immunität gibt, keine Impfungen durchgeführt und keine Infektionsschutzmaßnahmen getroffen wurden. Beim Coronavirus schätzt das RKI diesen Wert zwischen 2,4 und 3,3. Das heißt jeder Infizierte würde - ohne Schutzmaßnahmen - im Mittel etwas mehr als zwei bis etwas mehr als drei Personen anstecken.
Wie wird der R-Wert ermittelt?
Der R-Wert basiert auf statistischen Verfahren und kann daher nur geschätzt werden. Um "Ausrutscher" auszugleichen, wie sie zum Beispiel durch verspätet eintreffende Meldungen oder massive lokale Ausbrüche entstehen, wendet das Robert Koch-Institut das sogenannte "Nowcasting"-Verfahren an. Dafür wird die Zahl der gemeldeten Ansteckungen unter Berücksichtigung von Diagnose-, Melde- und Übermittlungsverzug auf Basis von zwei aufeinanderfolgenden Vier-Tages-Zeiträumen ermittelt.
Wie aktuell ist der R-Wert?
Zwischen Ansteckung und Ausbruch einer Krankheit liegt die Inkubationszeit, die bei Covid-19 etwa vier bis sechs Tage beträgt. Hinzu kommt die Zeit, die benötigt wird, um die Daten für den jeweiligen Vier-Tages-Zeitraum zu sammeln. Die vergangenen drei Tage gehen also nicht in die Berechnung ein. Der jeweilig jüngste R-Wert bildet daher das Infektionsgeschehen vor eineinhalb bis zwei Wochen ab.
Warum wurde das Berechnungsverfahren vom RKI mehrfach geändert?
Die Methode zur Bestimmung des R-Werts wurde von Robert Koch-Institut (RKI) jeweils den realen Entwicklungen und Erfahrungen angepasst, zum Beispiel, als das RKI die tatsächliche Meldeverzögerung der Krankheitsfälle besser abschätzen konnte. Die Änderungen im Berechnungsverfahren wurden dabei transparent dokumentiert.
Welche Faktoren beeinflussen den R-Wert?
Da die Erfassung von Krankheitsfällen zumindest in der ersten Zeit der Epidemie nicht einheitlich erfolgte, kann es zu organisatorisch bedingten Schwankungen des R-Werts kommen. Einzelne massive Ausbrüche können den Wert beeinflussen und ein falsches Bild ergeben. Experten raten daher dazu, Aussagen erst auf Basis eines länger anhaltenden Trends zu machen. Das RKI weist deshalb zusätzlich einen "geglätteten R-Wert" aus, der die kurzfristigen Ausschläge ignoriert.
Wenn der R-Wert unter 1 fällt, dann müsste eine Epidemie doch auslaufen, oder?
Das lässt sich allein aus dem Wert nicht feststellen. Die Zahl ist von vielen äußeren Einflüssen abhängig. So kann die Zahl der Infizierten durch externe Maßnahmen wie Kontaktverbote, Reiseeinschränkungen und verbesserte Schutzmaßnahmen, aber auch das Wetter reduziert werden. Fallen solche Faktoren weg, beispielsweise durch Rücknahme von Eindämmungsmaßnahmen, könnte sie schnell wieder über 1 steigen.
Welche Faktoren sind noch wichtig, um den Verlauf einer Epidemie zu beschreiben?
Welchen Einfluss eine Epidemie auf die betroffene Bevölkerung hat, hängt von vielen Bedingungen ab. So spielen die Kapazitäten des Gesundheitssystems, die Möglichkeiten zur Isolierung und Eindämmung sowie die Möglichkeiten, Infektionswege zu bestimmen und nachzuvollziehen, ebenfalls eine große Rolle. Auch die Länge und die Schwere der Erkrankungen sind in diesem Zusammenhang wichtig.
Eine zentrale Bedeutung hat daher die absolute Zahl der Neuinfektionen. Ist diese zu hoch, kann eine Epidemie auch bei einem R-Wert unter 1 außer Kontrolle geraten, wenn in medizinischen Einrichtungen, Behörden und zentralen Infrastruktureinrichtungen dadurch die Kapazitätsgrenzen gesprengt werden. RKI-Präsident Lothar Wieler warnt daher davor, immer nur auf den R-Wert zu schauen. Dieser müsse "immer gemeinsam mit anderen Zahlen betrachtet werden".