Unfall bei Raketentest Was geschah am Weißen Meer?
Vergangene Woche gab es auf einem militärischen Testgelände am Weißen Meer eine Explosion. Verantwortliche in Russland geben nur zögerlich Daten über den Unfall preis. Das sorgt für Kritik.
Am 8. August gaben die Behörden für Moskau eine Sturmwarnung aus mit der Aufforderung an die Einwohner, zu Hause zu bleiben. Doch das Wetter blieb ruhig. Einige Fernsehsender sendeten zeitweise kein Programm.
Am gleichen Tag registrierten drei seismische Messgeräte und ein Infraschall-Sensor der internationalen "Organisation des Vertrages über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen" (CTBTO) ein Ereignis.
Etwa zum gleichen Zeitpunkt führten Atomingenieure einen Versuch auf dem militärischen Testgelände bei Njonoksa nahe der Stadt Sewerodwinsk knapp 1000 Kilometer nördlich von Moskau durch.
Bei dem Test auf einer schwimmenden Plattform an der Küste des Weißen Meeres ging etwas schief. Anfangs berichtete das russische Verteidigungsministerium von zwei Toten. Inzwischen ist bekannt, dass fünf Menschen ums Leben kamen.
Das staatliche Unternehmen Rosatom teilte mit, bei einer Explosion seien Mitarbeiter ins Meer geschleudert worden. Nach Abschluss von Tests sei Treibstoff in Brand geraten, worauf es eine Detonation gegeben habe, so Rosatom.
Widersprüchliche Angaben zu Strahlungswerten
Die spärlichen und teils widersprüchlichen Informationen warfen Fragen auf, vor allem bei den Einwohnern in der Umgebung.
Zunächst betonte das Verteidigungsministerium, es seien keine Schadstoffe freigesetzt worden. Die Behörden in Sewerodwinsk jedoch teilten kurz nach dem Unfall auf der Homepage der Stadt mit, dass "ein kurzer Anstieg des Strahlenniveaus" festgestellt worden sei. Diese Information wurde aber nach kurzer Zeit gelöscht.
Dieses Archivbild von 2011 zeigt Gebäude einer Militärbasis nahe Njonoksa.
Das an den Tests beteiligte Allrussische Forschungsinstitut für experimentelle Physik in Sarow bestätigte eine Explosion. Am Sonntag dann sagte Forschungsdirektor Wjatscheslaw Solowjow einem lokalen Fernsehsender, das Institut forsche an "kleinformatigen Energiequellen unter Nutzung spaltbaren Materials".
Bewohner können sich nicht ausreichend schützen
Die verunsicherten Bewohner in der Umgebung besorgten sich in Apotheken Jod-Präparate. Durch deren Einnahme kann verhindert werden, dass der Körper über die Schilddrüse radioaktive Jod-Isotope* aufnimmt. Lokalen Medienberichten zufolge war Jod in einigen Apotheken in Sewerodwinsk und in der nächstgelegenen Stadt Archangelsk schnell ausverkauft.
Am Dienstag nun, fast eine Woche später, teilte die staatliche Wetterbehörde mit, in Sewerodwinsk seien an jenem 8. August vier bis 16 Mal höhere radioaktive Werte als gewöhnlich gemessen worden.
Damit gab die Behörde zu, was bereits angenonmen geworden war: Nach Angaben des Atomphysikers Andrej Ozharowskij von der Organisation "Russische sozial-ökologische Union" entstand über dem Testgelände eine radioaktive Wolke. Sie sei mit dem Wind in Richtung Sewerodwinsk getrieben worden. Zu den offiziellen Angaben über eine kurzfristige Erhöhung der Werte sagte er, Radioaktivität könne nicht einfach verschwinden.
Im Interview mit tagesschau.de kritisierte er, dass die Behörden bislang keine konkreten Angaben über die freigesetzten Radionukleide machen. Eine genaue Kenntnis davon sei nötig, um die Anwohner zum Beispiel durch das Verbot von Fischfang oder des Verzehrs von Milch zu schützen. Unter Umständen müssten auch Gebiete abgeriegelt werden.
Die zögerliche Informationspolitik der Behörden begründet Ozharowskij mit dem Ziel, nicht nachvollziehbar zu machen, was für Waffen getestet wurden.
Die über dem Testgelände entstandene radioaktive Wolke sei nach Sewerodwinsk getrieben worden, so Ozharowskij.
Was für eine Rakete wurde getestet?
In der Tat kamen sofort Fragen auf, was genau getestet wurde. Neben der Sorge um die Art der Strahlung äußerten Experten sogleich Vermutungen über die getestete Rakete.
Rosatom selbst sprach am Montag von der Entwicklung spezieller Rüstungsgüter. Zuvor hatte das Unternehmen erklärt, die Angestellten seien beauftragt gewesen, eine "isotopische Energiequelle für einen mit flüssigem Brennstoff betriebenen Raketenantrieb" auf der Plattform zu betreiben.
Ankit Panda vom Amerikanischen Wissenschaftlerverband erklärte, dass bei der Explosion von flüssigem Brennstoff keine Radioaktivität freigesetzt werde. Er nimmt an, dass es sich um ein mit Atomenergie betriebenes Triebwerk handelte.
Nach Einschätzung des Atomwaffenexperten Jeffrey Lewis vom Middlebury Institute for International Studies könnte es sich konkret um eine atomar betriebene Rakete vom Typ 9M730 "Burewestnik" (Sturmvogel) gehandelt haben. Bei der NATO wird sie als SSC-X-9 Skyfall bezeichnet.
Präsident Wladimir Putin hatte bei seiner Rede zur Lage der Nation im März 2018 eine neue Generation von Marschflugkörpern angekündigt. Sie seien bereits 2017 getestet worden und könnten jedes Ziel auf der Erde erreichen, da sie zum Teil atomar betrieben würden. Das hieße, dass sowohl flüssiger Brennstoff als auch ein atomarer Antrieb genutzt würde. Fraglich ist, ob für letzteres eine Batterie oder ein Reaktor genutzt wird.
Der Antrieb würde es nach den Worten Putins jedenfalls ermöglichen, die Rakete zu manövrieren und so die US-Raketenabwehr zu umfliegen.
Gefahr für die Bevölkerung
Der russische Militärexperte Alexander Goltz nahm den Unfall zum Anlass, das Verteidigungsministerium in Moskau zu kritisieren. Durch die strenge Geheimhaltung der Entwicklung von Waffen werde die Durchführung von Tests zu einer potenziellen Bedrohung für die Bevölkerung.
Für fünf der Toten gab es in Sarow eine Trauerzeremonie.
Er stellte in Frage, ob die Entwicklung der "Burewestnik" notwendig sei. In der Konkurrenz um ein schrumpfendes Militärbudget versuchten die Bewerber in Russland die Phantasie von Präsident Wladimir Putin zu beflügeln. Es würden Mittel verwendet, die stattdessen zum Beispiel für den Bau sicherer Munitionslager eingesetzt werden sollten.
Rosatom kündigte inzwischen an, die Arbeiten an den Neuentwicklungen würden "in jedem Fall zu Ende geführt". Bei einer Trauerzeremonie würdigte Rosatom-Generaldirektor Alexej Lichatschow die Toten als "wahre Helden".
*Die Formulierung wurde aufgrund einer fachlichen Ungenauigkeit korrigiert.